Akte X
l
Mary Lefante klappte die Sonnenblende herab und zog einen tiefroten Lippenstift aus der Jackentasche ihrer Postuniform, während ihr Freund, Billy, den Wagen einparkte. Seine Blicke wanderten nervös zwischen Rückspiegel und Seitenspiegel hin und her.
Der heftige, stürmische Regen machte es ihm unmöglich, mehr als ein paar Schritte weit zu sehen.
Sogar die Scheibenwischer waren mit den Wassermassen überfordert, und nur während eines Sekundenbruchteils nach jedem Wischen konnte Billy die Worte auf dem Schild erkennen, das er eine Woche zuvor entdeckt hatte: 3 CENT KOPIEN / FAX
SERVICE / PASSBILDER ZUM MITNEHMEN.
Billy wartete nicht gern. Er zündete sich eine Zigarette an und jagte den Motor des VW-Käfers ungeduldig auf eine hohe Drehzahl.
„Es geht nur um ein verdammtes Passbild“, erklärte er Mary, wobei er eine Qualmwolke ausatmete. „Nicht das Titelbild der Vogue.“ Mary zog sich die Lippen nach und spitzte sie kurz, ehe sie kontrollierte, ob ihre Zähne noch makellos und weiß waren.
„Deswegen muß ich trotzdem nicht beschissen aussehen oder? Also, reg dich wieder ab!“ Billy sah auf die Uhr.
„Wir müssen unseren Zeitplan einhalten“, raunzte er.
„Ich weiß, daß wir den Zeitplan einhalten müssen, okay?“
Mary schob sich eine honigblonde Haarsträhne aus dem Gesicht und wischte einen Lidstrichfleck ab, während Billy sie zornig und gleichzeitig anerkennend musterte. Ihre Sturheit brachte ihn zwar manchmal zur Weißglut, doch sie war die schönste Frau, die jemals längere Zeit bei ihm geblieben war. Sie hatte grüne Augen -
Katzenaugen, wie Billy sagte - und engelsgleiche Locken; auf Chemiekrause konnte sie gut verzichten. Während er sie betrachtete, fragte sich Billy zum hundertsten Mal, ob es richtig gewesen war, sie in diese Sache zu verwickeln. Immerhin hatte Mary bis zu seinem Auftauchen jahrelang ein rechtschaffenes Leben geführt. Andererseits - ohne sie hätte er die Sache gar nicht durchziehen können.
Erneut zog Billy an seiner Zigarette und blickte unruhig in die beiden Spiegel des Wagens. Dieses Mal entdeckte er etwas, das ihn tiefer in den Sitz sinken ließ.
„Verhalte dich unauffällig“, murmelte er.
Ein schwarzweißer Streifenwagen der Polizei von Traverse City, Michigan, fuhr langsam an ihnen vorüber und verschwand schließlich im Regen. Ohne mit der Wimper zu zucken, beschäftigte sich Mary weiter mit ihrem Make-up.
Sie wußte, was Billy gesehen hatte, doch sie machte sich ganz einfach keine Sorgen. Endlich griff sie nach dem Türhebel.
„Bin in zehn Minuten wieder da“, lächelte sie.
„Mach fünf daraus“, entgegnete Billy. „Ich warte hinterm Haus auf dich.“
Mary stieg aus dem VW und spannte einen Regenschirm auf.
„Bleib cool, Billy“, sagte sie zum Abschied.
Als sie das Geschäft betrat und die Türklingel ertönte, blickte der weißhaarige Drogist von seinem Comic-heft auf.
„Kann ich Ihnen helfen, Ma'am“, fragte er väterlich, als sie sich dem Verkaufstresen näherte.
„Paßbilder“, erwiderte Mary kurz angebunden.
Sie hatte Billys Aufforderung, sich zu beeilen, nicht vergessen.
Der alte Mann verstand den Wink und machte sich an die Arbeit. Er holte eine speziell für diesen Zweck gefertigte Polaroidkamera unter dem Tresen hervor und ließ Mary an eine Stelle des Raumes treten, die mit einem X gekennzeichnet war. Dann griff er nach dem blauen Hintergrundschirm über ihr und zog ihn herab.
„Bin mal in London gewesen“, bemerkte er, während er die zwei Meter zurücktrat, die für den richtigen Bildausschnitt notwendig waren. „Die haben sich mein Paßbild kaum angesehen.“ Während er die Kamera hob und durch den Sucher blickte, strich sich Mary ein letztes Mal eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Jetzt lächeln Sie mal.“
Mary setzte ein breites Lächeln auf. Das Blitzlicht flammte auf und brachte sie zum Blinzeln. Als sie schließlich wieder klar sehen konnte, hatte der Drogist das noch unfertige Foto bereits aus der Kamera gezogen und auf den Tresen gelegt.
„Es dauert ein paar Minuten“, meinte er entschuldigend, während er wieder hinter seinen Tresen zurückging. „Haben Sie eine große Reise geplant?“ fragte er, denn er hatte die Erfahrung gemacht, daß die meisten Menschen gern über ihre Auslandsreisen sprachen.
Mary ging zur Kasse.
„Ach, wissen Sie, nichts Besonderes“, entgegnete sie, wobei sie sich wünschte, der alte Mann würde weniger reden. „Es ist einfach gut, einen Paß
Weitere Kostenlose Bücher