Eisprinzessin
seinen Träumen, die allesamt Alpträume waren, fiel sie von einer Klippe. Wie eine Mondsüchtige trat sie an den Abgrund und stürzte in die Gischt. In einem Erdloch hockte sie mit lehmverschmierten Lippen. Sie erstickte in einer Kiste an dem Knebel in ihrem Mund, wurde in einem Verlies festgehalten und rief nach ihm. Sie schrie seinen Namen, und er war nicht da. Er konnte ihr nicht helfen, deshalb musste sie sterben. Allein, ohne eine Menschenseele an ihrer Seite.
Er hatte seine Dosis Amitriptylin ohne Rücksprache mit dem Arzt erhöht. Er musste doch auch mal schlafen, wenn es hell wurde, wenn das erste Tageslicht kam. Wo war Charlotte? Bei diesem Kerl, diesem M.? Tu mir das nicht an. Gib mir ein Zeichen. Nur ein kleines Zeichen, dass du noch lebst, auch wenn du einen anderen hast. Aber lass mich nicht jede Nacht mit dir sterben. Schau meine Nägel an. Siehst du nicht, wie ich leide?
Er sah zum Fensterkreuz. Was für ein schrecklicher Ort zum Sterben. Dann hörte er ein Geräusch. Das Telefon. War das Charlotte? Hatte sie ihn gehört?
»Charlotte?«
Gelächter. Ein Mann. Nicht Charlotte.
»Und? Hast du gewusst, dass deine Frau dich betrügt? Seit wann weißt du es? Wie hast du es erfahren? Hast du sie zur Rede gestellt? Hast du sie umgebracht? Wo hast du sie entsorgt? Wo versteckst du sie?«
Er wusste nicht mehr, wie er das abstellen konnte, fand die richtige Taste nicht, drückte alle Tasten zeitgleich, damit die Fragen aufhörten, damit das alles endlich aufhörte. Ein Mann hüpfte durchs Treppenhaus, blieb vor seiner Tür stehen und lachte. Lachte ihn aus. Wusste er, wo Charlotte war? War er der Mann, der ihr die Briefe geschrieben hatte? Hatte er sie im Keller versteckt? Eberl warf das Handy auf den Boden. Der Deckel sprang ab, der Akku schlitterte über den Küchenboden, dann war es still. Endlich.
NEUN
»Was ist denn hier schon wieder los?« Meißner stand an der Tür zum Besprechungsraum, während Marlu den Tisch deckte.
»Ach, nichts Großes. Nur Kaffee und Kuchen«, sagte sie.
»Gibt’s was zu feiern?«
»Axel hat am Sonntag Geburtstag.«
»Axel?«
»Jetzt hör aber auf!«
»Und da feiert er schon im Voraus?«
»Ja mei«, sagte Marlu, »der ist eben nicht so g’schamig wie du. Du bestichst doch die Damen von der Personalabteilung seit Jahren, damit sie deinen Geburtstag unter keinen Umständen rausrücken. Das muss dich ganz schön was kosten.«
»Zwei Blumensträuße jedes Jahr. Zu den Geburtstagen der Damen, die in meinem Kalender dick rot angestrichen sind.«
»Für das Geld könntest du uns Kollegen aber auch zu Kaffee und Kuchen einladen. Wir haben nämlich kein Problem mit deinem Alter.« Er war schon fast wieder weg, da rief sie ihm noch nach: »Du kommst doch? In einer Viertelstunde ist der Kuchen da.«
Als Meißner von der Gruber Sandra aus der Personalabteilung zurückkam, deren Geburtstag er dieses Jahr prompt vergessen und ihr hoch und heilig einen extragroßen Blumenstrauß für den kommenden Montag versprochen hatte, war der Besprechungsraum noch leer. Aus der Teeküche hörte er Geräusche, dann ein gurrendes Lachen, ein Kichern und Glucksen. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Nach einem kurzen Blick den Gang entlang blieb Meißner hinter der Tür stehen und lauschte. Da hörte er es wieder, dieses Täubchen-Gurren. Von der anderen Person war nichts zu hören. Verdächtige Stille. Was ging da drinnen vor?
Meißner zählte bis drei, lief ein Mal um die Küche herum und näherte sich der Tür von der anderen Seite. Dort traf er mit Holler zusammen. Die beiden blieben an der Tür stehen. Marlu hielt gerade das Kuchenmesser zum Saubermachen unter den Wasserhahn. An der Altpapierbox stand Kollege Brunner und machte den Kuchenkarton platt. Axel, das war doch ein Name für einen Schäferhund.
»Kann man noch was helfen?«, fragte Holler freundlich.
»Alles schon fertig.« Marlu lächelte und schlüpfte mit der Kuchenplatte an ihnen vorbei. Ihre Wangen waren gerötet, und sie grinste ihn komisch an. Wobei hatte er sie denn jetzt ertappt? Bei einem harmlosen Flirt unter Kollegen? Er kannte dieses Gurren genau, aus weniger harmlosen Situationen, und war nicht vernünftig genug, einzusehen oder sich damit abzufinden, dass er nicht der einzige Mann war, der Marlu diese Laute entlockte.
Meißner fand die kleine Feier, die Brunner wieder einmal die Gelegenheit gab, im Mittelpunkt zu stehen, nicht besonders witzig. Er beobachtete Marlu, die kurz zu ihm her- und dann wieder
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