Eisprinzessin
Leichenliegezeit auf etwa fünfzehn Jahre plus minus fünf. Genauer kann er es im Moment nicht sagen.«
Meißner fragte sich, ob er Leichenliegezeit oder postmortales Intervall gesagt hatte.
»Und was ist mit diesen Farbpartikeln in der Wunde?«
»Das sind Lack- und feine Metallsplitter. Du sollst ihn anrufen, sagt er. Und ich soll dir noch ausrichten, dass ihr morgen Abend im Bayerischen Fernsehen zu sehen seid, in der Rundschau. Achtzehn Uhr fünfundvierzig.«
»Danke, aber mir reicht es schon, wenn ich mein Gesicht im Spiegel anschauen muss.«
»Ich werd auf jeden Fall einschalten. Wegen Kern natürlich, nicht wegen dir.«
»Weißt du schon, wann der Helmer zur Identifizierung kommen kann?«
»Möglichst bald, sagt Kern, am besten noch heute, wegen der Verwesung.«
»Okay, rufst du ihn an? Aber das mit der schnellen Verwesung brauchst du ihm nicht zu sagen, gell?«
»Ach ja, und die Sekretärin von der Donau-Kühlung hat noch angerufen. Frau Thalheimer, die ehemalige Haushälterin der Helmers, lebt in einem Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt in Feldkirchen. Das ist im Münchner Osten.«
»Ich weiß, wo Feldkirchen liegt. Hinter Riem, wo vor Urzeiten, bevor sie den Franz-Josef-Strauß ins Erdinger Moos gepflanzt haben, der Münchner Flughafen war. Es gibt heute noch Leute, die so alt sind, dass sie damals von Riem aus nach Westberlin geflogen sind. Mein erster Flug. Das war 1976.«
»Schon gut. Du fährst am besten über die –«
»Ich weiß, wie ich fahre, Marlu. Über die Osttangente, A 99. Und wenn ich’s nicht wüsste, hätte ich immer noch mein Navi.«
»Noch mal Klugscheißer«, sagte Marlu und legte auf.
Die Morgennebel über der Altmühl hatten sich ganz aufgelöst, und eine blasse Wintersonne schien auf die Willibaldsburg und über Eichstätt. Dort hätte Meißner sich jetzt den Archaeopteryx und lebende Pfeilschwanzkrebse im Jura-Museum ansehen können. Wenn Konstantin größer war, könnte er mit ihm vielleicht einmal einen Ausflug hierher machen und mit Hammer und Meißel in die aufgelassenen Steinbrüche gehen.
Er rief Kern an, und der Rechtsmediziner klärte ihn über den Tathergang auf, wie er sich für ihn darstellte.
»Es gibt Streit«, sagte Kern. »Sie weicht zurück. Der Täter bedrängt sie, sie weicht ihm aus. Im Rückwärtsgehen stolpert sie über irgendetwas. Sie fällt nach hinten, schlägt mit dem Kopf auf ein Eisenteil. Das Teil hat ungefähr die Form einer Zaunlatte, an seiner stumpfen Spitze kleben ein paar Lackspuren. Die Spitze trifft das Opfer am oberen Teil der Halswirbelsäule, der vom Laien auch Genick genannt wird. Genau am ersten und zweiten Wirbel, die beide für die Beweglichkeit des Kopfes in allen Ebenen verantwortlich sind. Jetzt folgt eine kurze Anatomiestunde, Meißner. Hast a bissl Zeit und deine Freisprechanlage an?«
Meißner war auf der B 13, in Höhe Tauberfeld/Buxheim unterwegs, und wollte bei Lenting auf die A 9 fahren. Bis Feldkirchen waren es noch knappe hundert Kilometer. Genügend Zeit plus Freisprechanlage. »Schieß los«, antwortete er.
»Also«, dozierte Kern, »der erste Wirbel, er heißt Atlas, weil er das ganze Gewicht des Kopfs trägt, ist der, der für das Nicken zuständig ist. Er besitzt selbst keinen Wirbelkörper, ist also eigentlich nur ein knöcherner Ring. In diesen Ring greift der dens axis , der zweite Halswirbel. Er sorgt dafür, dass wir den Kopf drehen können, wenn auch nicht so weit wie die Eulen.«
»Dafür können wir im Gegensatz zu den Eulen unsere Augen bewegen. Und ich sag dir was, das ist mir lieber als immer den ganzen Kopf zu drehen.«
»Oha, ein Ornithologe! Aber weiter im Text. Innerhalb dieses Atlas-Rings verläuft das Rückenmark, das bekanntlich vom Gehirn kommt und sich im Wirbelkanal über die Wirbelsäule fortsetzt. Wenn der Axis sich durch eine starke äußere Einwirkung in das Rückenmark bohrt, ist es vorbei.«
»Aber Verletzungen, Druckstellen von einem Kampf, einem Stoß oder Schlag sind keine zu finden?«, fragte Meißner.
»Ein paar schwache Druckstellen an den Handgelenken, die auf eine Rangelei deuten könnten. Und das war’s auch schon von meiner Seite. Aber eine Frage hab ich noch an dich: Wenn das siebzehn Jahre her ist, ist das Verbrechen dann nicht schon verjährt?«
»Totschlag verjährt nach zwanzig Jahren, fahrlässige Tötung schon nach fünf. Da wären wir also zu spät dran. Aber die Verjährung wird immer am Einzelfall geprüft. Wie das Gericht entscheiden wird, kann ich nicht
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