Elantris
blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Träge an ein paar Treppenstufen gelehnt, lag nicht weit von ihm ein Mann, auf dessen Glatze sich die Morgensonne spiegelte. Er war zweifellos Elantrier, doch vor der Verwandlung musste er einem anderen Volk angehört haben; im Gegensatz zu Raoden stammte er nicht aus Arelon. Die Haut des Mannes war mit den verräterischen Flecken der Shaod übersät, aber die unberührten Stellen waren nicht blass, sondern tiefbraun.
Aus Angst vor einer möglichen Gefahr verkrampfte Raoden sich innerlich, doch dieser Mann wies keinerlei Anzeichen der urtümlichen Wildheit oder des körperlichen Verfalls auf, die Raoden an den anderen Elantriern bemerkt hatte. Der große muskulöse Mann hatte breite Hände und wachsame Augen, die Raoden aus einem dunkelhäutigen Gesicht entgegenblickten. Er musterte Raoden nachdenklich.
Raoden seufzte erleichtert auf. »Wer immer Ihr sein mögt, ich bin froh, Euch zu sehen. Ich dachte schon, hier drinnen seien alle entweder dabei zu sterben oder wahnsinnig.«
»Wir können nicht sterben«, entgegnete der Mann mit einem verächtlichen Schnauben. »Wir sind schon tot. Kolo?«
»Kolo.« Das fremdländische Wort kam ihm vage vertraut vor, ebenso wie der starke Akzent des Mannes. »Ihr stammt nicht aus Arelon?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich bin Galladon aus dem unabhängigen Reich Duladel. Seit Neuestem lebe ich jedoch in Elantris, dem Land des Schlammes, des Wahnsinns und der ewigen Verdammnis. Schön, Eure Bekanntschaft zu machen.«
»Duladel?«, fragte Raoden. »Aber die Shaod trifft nur Menschen aus Arelon.« Er stand mühsam auf, wischte sich Holzstücke von der Kleidung, die sich in unterschiedlichen Phasen der Fäulnis befanden, und verzog das Gesicht, weil der Zeh wehtat, den er sich angestoßen hatte. Raoden war über und über mit Schmutz bedeckt, und mittlerweile ging auch von ihm der primitive Gestank von Elantris aus.
»In Duladel ist man von unterschiedlicher Abstammung, Sule. Arelisch, Fjordellisch, Teoisch - das gibt es dort alles. Ich ...«
Raoden unterbrach den Mann mit einem leisen Fluch.
Galladon hob eine Augenbraue. »Was ist los, Sule? Habt Ihr einen Splitter an die falsche Stelle gekriegt? Obwohl es dafür wahrscheinlich keine richtigen Stellen gibt.«
»Es ist mein Zeh!«, sagte Raoden und humpelte über die rutschigen Pflastersteine. »Etwas stimmt nicht damit. Ich habe ihn mir angestoßen, als ich hingefallen bin, aber der Schmerz lässt einfach nicht nach.«
Wehmütig schüttelte Galladon den Kopf. »Willkommen in Elantris, Sule. Ihr seid tot. Euer Körper heilt nicht mehr, wie er sollte.«
»Was?« Raoden ließ sich neben den Stufen zu Boden plumpsen. Sein Zeh tat weiterhin so heftig weh wie in dem Moment, als er ihn sich gestoßen hatte.
»Sämtliche Schmerzen, Sule«, flüsterte Galladon. »Jeder Schnitt, jede Schramme, jede Prellung und jedes Wehwehchen - sie werden nicht aufhören, bis Ihr vor Leiden den Verstand verliert. Wie schon gesagt, willkommen in Elantris.«
»Wie haltet Ihr Leute das aus?«, fragte Raoden und massierte sich den Zeh, was jedoch nichts half. Es war so eine dumme kleine Verletzung, doch er musste sich zusammenreißen, damit ihm nicht vor Schmerz die Tränen in die Augen stiegen.
»Gar nicht. Entweder sind wir sehr vorsichtig, oder wir enden wie die Rulos, die Ihr auf dem Platz gesehen habt.«
»Auf dem Platz ... Idos Domi!« Raoden hievte sich empor und humpelte in Richtung des Platzes zurück. Er fand den Bettlerjungen an derselben Stelle wie vorhin, in der Nähe des Eingangs der Gasse. Der Junge lebte noch ... auf gewisse Weise.
Die Augen des Jungen starrten leer in die Luft, ohne zu fokussieren. Seine Lippen bewegten sich leise, ohne dass er auch nur den geringsten Laut von sich gegeben hätte. Der Hals des Jungen war völlig zertrümmert, und an der Seite befand sich eine große klaffende Wunde, durch die man die Halswirbel und die Kehle sehen konnte. Der Junge versuchte vergeblich, durch das Durcheinander zu atmen.
Auf einmal kam Raoden sein Zeh nicht mehr so schlimm vor. »Idos Domi ...«, flüsterte Raoden und wandte den Kopf ab, weil sein Magen rebellierte. Er streckte den Arm aus und hielt sich an einer Häuserwand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Den Kopf hielt er gesenkt, während er sich krampfhaft bemühte, nicht auch noch seinen eigenen Teil zu dem Schmutz auf der Straße beizutragen.
»Dem hier bleibt nicht mehr viel übrig«, sagte Galladon in sachlichem
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