Elben Drachen Schatten
einer sehr großen Hand ließen Pantanos stutzen. Er hatte schon wiederholt Geschäfte mit gnomischen Händlern aus Hocherde gemacht und dabei, wie er meinte, zumeist einen guten Schnitt gemacht. Aber sechs Finger hatte er bei keinem von ihnen je gesehen.
Welch eine Missgeburt!, durchfuhr es ihn. Gleichzeitig bellte er: »Was willst du?«
Der Gnom trat ein. »Du hast etwas, das dir nicht zusteht, Elender!«, dröhnte die Stimme des Fremden, die trotz seiner zwergenhaften Gestalt erstaunlich voll und tief klang. Er ging auf den Händler zu, während dieser zurückging und erbleichte.
Ein zweiter Gnom kam aus der Dunkelheit der Nacht hervor. Er trat neben den ersten, griff an seinen Gürtel und zog einen Wurfdolch, und ehe es Pantanos schaffte, noch einen weiteren Schritt in Richtung des hinteren Ausgangs zurückzulegen, hatte traf ihn der Dolch genau in Höhe des Herzens. Seine Züge erstarrten. Er brach zusammen und blieb reglos auf dem Boden liegen.
Die beiden Gnome schritten auf ihn zu. Mit dem Stiefel wurde Pantanos' Leichnam herumgedreht. Sechsfingrige Hände durchsuchten ihn und schlossen sich schon Augenblicke später um den Beutel mit den Elbensteinen.
2. Kapitel
Der Elbenkönig erwacht
Der Geruch unvorstellbaren Alters, gemischt mit dem Atem des Todes und der Verwesung.
Kälte.
Flackernder Flammenschein.
Tanzende Schatten und dunkle Linien, die für die Dauer eines Lidschlags Muster und Umrisse bilden.
Eine Aura des Bösen. Schauder bis ins Mark und der Gedanke, an einem Ort zu sein, an den sich kein lebendes Wesen begeben sollte.
Eine sechsfingrige Hand legt sich um den Beutel mit den Elbensteinen. Triumphierend hallt ein Lachen zwischen den kalten, modrigen Wänden einer von flackerndem Licht erhellten Höhle wider.
Ein Lachen, das sich verwandelt in …
Schreie drangen durch das königliche Schlafgemach in der inneren Burg von Elbenhaven. König Keandir saß kerzengerade in seinem Bett. Schweiß perlte auf der elfenbeinfarbenen Haut. Die leicht schräg gestellten Augen waren schreckgeweitet, seine Züge zeigten einen Ausdruck tiefer Verstörung. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und strich sich dann das lange dunkle Haar aus der Stirn, in dem sich die ersten Spuren von Silbergrau zeigten.
»Kean«, flüsterte eine weibliche Stimme neben ihm. »Kean, du hast geträumt.«
Wie aus weiter Ferne schien die Stimme seiner Gemahlin zu ihm zu sprechen. Keandir brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, wo er sich befand. Er schaute in Ruwens feingeschnittenes Gesicht und flüsterte: »Ja, ja, es war ein Traum. Ein … ein sehr böser Traum.«
Sie strich ihm über den Rücken und schmiegte sich an ihn. »Die Schlacht an der Aratanischen Mauer ist gerade mal hundertzwanzig Jahre her, und du warst so schwer verwundet, dass die Heiler ihre ganze Kunst aufwenden mussten, um dich zu retten. Da ist es nur natürlich, dass dich immer noch böse Träume plagen. Du musst Geduld haben, Kean.«
»So viel Geduld, wie du an meinem Krankenlager hattest«, erwiderte Keandir und lächelte sie liebevoll an. Er strich Ruwen zärtlich über das seidige Haar, durch das die spitz zulaufenden Elbenohren hindurchstachen. »Es war nicht nur die hohe Heilkunst der Elben, die mich daran hinderte, nach Eldrana, ins Reich der Jenseitigen Verklärung, zu entschwinden. Es war vor allem deine Liebe, Ruwen. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.«
Auch auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln. Aber es wurde überschattet von der tiefen Sorge, die sie empfand.
Keandir nahm seine Hand von Ruwens Haar, und sie krampfte sich über seinem Brustbein zu einer Faust zusammen. Genau dort, wo er den Beutel mit den Elbensteinen getragen hatte, als er in die Schlacht an der Aratanischen Mauer ritt. Die Wunden seines Körpers waren vernarbt, aber dieser Verlust schmerzte noch immer, war eine offene Wunde, und nie würde sie heilen. Er hatte das Gefühl, mit den Elbensteinen auch die Zukunft seines Volkes und die Herrschaft über das Schicksal verloren zu haben.
In den letzten hundertzwanzig Jahren hatte sich die Kunde vom Verlust der Elbensteine nicht nur in ganz Elbiana und den angrenzenden Elbenherzogtümern verbreitet, sondern auch in den Ländern der Menschen. Nicht nur das ― im Laufe der Zeit war daraus eine mit farbigen Details ausgeschmückte Geschichte geworden, die sich die Rhagar erzählten, um sich gegenseitig unter Beweis zu stellen, wie verwundbar die Elben waren und dass die Überlegenheit der ehemals als
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