Elben Drachen Schatten
Zwischenlands aufgetaucht waren, war die Sorge darüber in den Vordergrund getreten, wie man sich dieser Flut von Barbaren erwehren sollte. Deren bedrohlichste Waffe war nicht mal ihre ungeheure Brutalität und Grausamkeit, auch nicht ihre Fähigkeit, zumindest die technischen und kulturellen – weniger die magischen – Errungenschaften der Elben zu kopieren. Nein, ihre auf lange Sicht wirkungsvollste Waffe war die erschreckend hohe Zeugungsfreudigkeit. Die Rhagar vermehrten sich rasch, ihre Kinder wuchsen schnell heran und neigten dazu, aufgrund ihrer kurzen Lebensspanne bereits eigene Kinder in die Welt zu setzen, noch bevor sie in ihrer eigenen Entwicklung ein Stadium erreicht hatten, das unter Elben auch nur annähernd als geistige Reife bezeichnet worden wäre.
Eines Tages, da war sich Keandir sicher, würden sie so zahlreich sein, dass sich ihnen keine noch so gut ausgerüstete Elbenarmee widersetzen konnte. Keandir hatte oft darüber nachgedacht, dass dieser ungehemmt ausgelebte Zeugungswille wohl die Art der Rhagar war, sich dem unumstößlichen Faktum ihres frühen Todes entgegenzustellen. Das Zeugen von Nachwuchs war für sie die einzige Möglichkeit, die Zeitalter zu überdauern. In gewisser Weise waren sie aufgrund ihrer schon bei der Geburt gegebenen Nähe zum eigenen Tod bedauernswerte Geschöpfe, deren Grausamkeit jedoch dafür sorgte, dass das Mitleid der Elben mit ihnen nie Überhand zu nehmen drohte, obwohl sie sich vom aussehen her sehr ähnelten.
»Alles hat mit der Begegnung mit dem Augenlosen Seher angefangen«, sagte Keandir auf einmal zu Ruwens Überraschung, denn eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er ihr noch eine Antwort geben würde. Sie hatte inzwischen gelernt, dass diese Phasen der inneren gedanklichen Versenkung weder ein Zeichen schwindender Liebe auf Seiten des Königs waren, noch eines für aufkommenden Lebensüberdruss. Er wandte sich ihr zu und sah sie an, als wollte er noch etwas sagen. Er öffnete halb den Mund, doch es kam kein einziges Wort über seine Lippen.
Ruwen stieg ebenfalls aus dem Bett. »Ihr habt mir gegenüber nie viel über Eure Begegnung mit dem Augenlosen erzählt«, sagte sie und wechselte dabei in die Höflichkeitsform, die übliche Anrede für einen Elbenkönig. Die sprachliche Distanz, die sie damit zum Ausdruck brachte, war ein Spiegelbild zu der inneren Ferne, die sie stets gespürt hatte, wenn es um dieses Thema ging. Lange Zeit hatte Ruwen sich einzureden versucht, dass es nicht wichtig wäre, denn schließlich hatte seinerzeit Prinz Sandrilas den Augenlosen Seher erschlagen.
Manches hatte Ruwen geahnt, anderes hatte sie selbst auf gewisse Weise mitempfunden, da sie während Keandirs Begegnung mit dem Augenlosen immer wieder für kurze Momente eine schwache geistige Verbindung zu ihm gehabt hatte. Etwa in dem Augenblick, als ein dunkler Schatten seine Seele bedeckte. Anderes hatte sie aus den Erzählungen jener Elben erfahren, die damals Zeugen von Keandirs Kampf mit dem Feuerbringer geworden waren, eines Geschöpfs, dem Xaror den Auftrag gegeben hatte, den Augenlosen Seher zu bewachen und den dieser einen Bruder des Furchtbringers genannt hatte.
Das Wenigste aber hatte sie aus Keandirs eigenen Worten erfahren.
Keandir schloss die Augen. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck der Qual. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Bilder der Vergangenheit.
Sechsfingrige Hände, die sich um das uralte Hartholz zweier Zauberstäbe legen, beide mit barbarisch anmutenden Schnitzereien versehen, der eine dunkel und von einem Schatten aus Schwarzlicht umgeben, der andere aus hellem, fast weißem Holz und aus seinem Inneren heraus leuchtend, sodass er von einem Lichtflor umrahmt wird.
Ein zum Leben erwachender, sich bewegender geflügelter Affe aus Gold an der Spitze des hellen Stabs ― ein auf die Größe einer Elbenfaust geschrumpfter Totenschädel an der Spitze des dunklen Stabs …
Artefakte der Magie.
Licht und Schatten.
Gut und Böse.
Ordnung und Chaos.
Leben und Tod.
Wie zwei Aspekte ein- und desselben.
Zwei Seiten einer Medaille.
Zwei Brüder.
Der Augenlose Seher und Xaror.
Andir und Magolas …
» Ihr könnt Eure Augen ruhig öffnen«, drang Ruwens Stimme in die Gedanken des Elbenkönigs. »Ich weiß, dass sie jetzt möglicherweise von Schwärze erfüllt sind. Von einer Finsternis, die Ihr vielleicht auf dieser Insel empfangen habt – oder die immer schon in Euch war und nur durch jene dunkle Magie geweckt wurde. Aber das
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