Elben Drachen Schatten
Hieben aus.
Er ahnte, dass ihm nicht viel Zeit blieb und er vielleicht schon sehr bald nicht mehr in der Lage sein würde, sich zu verteidigen.
Einem mit einer Axt bewaffneten Angreifer stach er die Schwertspitze in den Leib, einem weiteren schlug er zuerst die Unterschenkel weg, ehe er ihn mit einem weiteren Hieb in Hüfthöhe zerteilte.
Die verbleibenden Angreifer flüchteten.
Der Norier griff an seinen Gürtel und zog einen Wurfdolch, der einen der Flüchtenden zwischen den Schulterblättern traf und zusammensinken ließ. Der letzte überlebende Angreifer verschwand in einer Seitengasse.
Der Norier folgte ihm.
Die Gasse war finster und unübersichtlich. Ratten huschten über das Pflaster. Aber ansonsten rührte sich nirgends etwas.
Einige Augenblicke lauschte der Norier noch angestrengt. Dann ging er zurück. Er wollte keineswegs von der Stadtwache angetroffen werden und deren Offizieren erklären müssen, wie es dazu kam, dass ein halbes Dutzend Gnome tot auf dem Pflaster lag.
Der Norier kehrte zu den Toten zurück und steckte sein Schwert ein. Das Gefühl der Taubheit verstärkte sich. Ein Kribbeln durchlief, ausgehend von der Wunde, seinen gesamten Körper. Vorsichtig betastete er die Stelle an der Schulter, wo ihn der Haken gestreift und sowohl seine Kleidung als auch seine Haut aufgerissen hatte. Erstaunlicherweise blutete sie kaum noch.
Dann schaute er hin zu der noch immer um den Schwertgriff gekrallten Hand, die er einem der Angreifer abgetrennt hatte.
Er verengte ungläubig die Augen.
Man hatte nicht viel Kontakt zu den Gnomen von Hocherde. Nur gelegentlich kamen ein paar Händler von dort bis Aratania, und umgekehrt verschlug es Rhagar so gut wie nie in die unzugänglichen, verwunschenen Hochebenen und Schluchten von Hocherde. Viele glaubten, dass Hocherde ein Ort war, an dem böse Geister und abgrundtief böse Dämonen ihr Unwesen trieben, deren verfluchte Seelen durch die Felsspalten aus dem unterirdischen Reich der Tiefe an die Oberfläche drangen, und trauten sich schon allein deswegen nicht in dieses unzugängliche Land.
Aber so wenig über die Gnome auch bekannt sein mochte, eines wusste auch der norische Gardist mit Sicherheit: Man hatte noch nie von Gnomen gehört, die sechs Finger hatten!
Der Norier blickte sich um. Er musste wachsam bleiben. Schon während seines Rückwegs entlang der Küstenroute von Nor nach Aratania hatte er stets das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden, und er ahnte, dass das alles möglicherweise mit dem Erbe zusammenhing, dass ihm sein Vater hinterlassen hatte: Einem Beutel Edelsteine, die von unglaublicher Reinheit waren und manchmal auf eine Weise zu leuchten begannen, die nicht zu erklären war.
Der Norier ging die Gasse bis zu ihrem Ende, wo er sein Pferd fand. Das Kribbeln durchlief inzwischen vor allem seine linke Körperhälfte, während es aus der rechten fast verschwunden war. Er war kaum in der Lage zu gehen, ohne dabei wie in Betrunkener zu schwanken. Als er schließlich das Pferd erreichte, hielt er sich am Sattelknauf fest. Er schloss für einen Moment die Augen. Ihm war schwindelig. Plötzlich glaubte er etwas zu hören.
Stimmen.
Namen.
Silben, die nichts bedeuteten.
Er drehte sich um und begriff, dass da niemand war, der zu ihm sprach, sondern dass diese Stimmen in seinem eigenen Kopf herumspukten wie Geister.
Athrandil.
Pathrandil.
Der Norier erkannte sie wieder. Schon während seines Ritts die norische Küste entlang hatte er diese Stimmen immer wieder gehört. Er erkannte auch die Namen wieder, und ein Gefühl verband beides mit den Steinen, die er geerbt hatte.
Cathrandil, Ithrandil, Nithrandil, Rithrandil …
Sechs Namen waren es, die immer wieder durch seinen Kopf geisterten, ohne dass er sich dagegen hätte wehren können. Es wird Zeit, dass ich die Steine loswerde, dachte er.
Sein Ururgroßvater hatte in der Schlacht an der Aratanischen Mauer in den Diensten des damaligen Herzogs von Aratan gestanden, dessen Truppen den Eroberungszug des Eisenfürsten Comrrm unterstützt hatten. Ein einzelner Krieger in einem gigantischen Rhagar-Heer, das den Abwehrwall der Elben an der Grenze zum Herzogtum Elbara angegriffen hatte. Eine Schlacht, wie es sie in einem Jahrtausend nur einmal gab. Und jener unbedeutende Krieger, dessen Name keine Chronik verzeichnete, hatte sich unsterblichen Nachruhm in zahllosen Legenden geschaffen, die man seither über ihn erzählte. Legenden, die allerdings variierten, sodass nicht ganz klar war, was sich
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