Elben Drachen Schatten
als jeden anderen, seine Eltern eingeschlossen.
Dennoch erschrak der junge Elbenprinz zunächst, als er den anderen erkannte. »Magolas!«, murmelte er kaum hörbar. »Mein Bruder…«
Seine Gedanken gingen zurück in jene Zeit, als sie beide als Jungen eine Bootsfahrt in den Norden unternommen hatten. Vor seinem inneren Auge tauchte die düstere Küste Naranduins auf, wie man die Insel des Augenlosen Sehers schon kurz nach der Ankunft der Elben im Zwischenland genannt hatte. Erneut sah Andir, wie die Augen seines Bruders vollkommen schwarz geworden waren. Ein übermächtiger Drang hatte ihn erfüllt. Ein Drang, diese von finsterer Magie beherrschte Insel anzulaufen und dort zu landen. Nur der Schlag mit einem Ruderblatt, der Magolas bewusstlos hatte niedersinken lassen, hatte ihn aufhalten können. Seitdem war die äußerst enge, wenn auch stets von Rivalität geprägte Verbindung, die bis dahin zwischen ihnen bestanden hatte, zerbrochen. Sie waren sich aus dem Weg gegangen und hatten, soweit es sich vermeiden ließ, kein Wort mehr miteinander gewechselt.
»Sei gegrüßt, Bruder!«, sagte Magolas, als er auf dem Turm erschien, und Andir drehte sich zu ihm um. Magolas hatte Andir in jener Sprache angesprochen, die sie beide untereinander als Kinder benutzt hatten und die für jeden anderen unverständlich war. Es schien Andir eine Ewigkeit her zu sein, dass er den Klang dieser Geschwistersprache zum letzten Mal vernommen hatte. Damals, auf dem Boot vor der Küste der Insel des Augenlosen Sehers, als Magolas ihn wie von Sinnen angeschrien hatte …
»Sei du auch gegrüßt, Bruder«, erwiderte Andir, wobei er ebenfalls dieses von den Zwillingen in ihrer Kindheit selbst entwickelte Idiom benutzte. Er war erstaunt, wie vertraut es ihm noch war.
»Ich habe gehört, dass du Elbenhaven verlässt, Andir.«
»Das entspricht der Wahrheit«, erklärte Andir. »Wer hat es Euch verraten? Unsere Mutter? Offiziell ist dieser Entschluss noch nicht verkündet worden, und ich bin auch nicht daran interessiert, großes Aufhebens darum zu machen.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Magolas’ Gesicht, das dem Andirs vollkommen glich. Einzig ein Feuermal am Kopf unterschied die beiden Zwillingsbrüder körperlich, und dieses Feuermal war nicht mehr zu sehen, seit Magolas Haarswuchs kräftig genug gewesen war, um es zu verdecken. So war es vor allem die Kleidung, die sie unterschied: Während Andir eine helle, aber schlichte Kutte aus Elbenzwirn trug, der so schmutzabweisend war, dass sich auf der Oberfläche kaum Flecken zu bilden vermochten, trug Magolas den Waffenrock eines Kriegers. Seine linke Hand lag um den Griff des Schwertes mit der schmalen, leicht gebogenen Klinge, die er an der Seite trug. Er hatte der Waffe bisher keinen Namen gegeben, denn einen solchen, so Magolas’ Ansicht, konnte ein Schwert nur im Kampf erlangen, und Magolas hatte während der Schlacht an der Aratanischen Mauer in Elbenhaven bleiben müssen, um den König zu vertreten und gegebenenfalls zu beerben, falls dieser nicht aus dem Kampf zurückgekehrt wäre.
»Es ist vieles geschehen seit jenem Moment«, sagte Magolas. Er brauchte nicht zu erklären, welchen Moment er meinte; das war zwischen ihnen klar. Es war jener Augenblick gemeint, in dem sie sich beide vor der Küste Naranduins in einem schwankenden Boot befunden hatten und Andir sich nicht anders zu helfen gewusst hatte, als Magolas niederzuschlagen, damit er der düsteren Faszination der Insel des Augenlosen Sehers nicht erlag.
Ja, diesen Moment meinte Magolas, aber es gab auch ein Davor und ein Danach, beides durch jenes Ereignis klar voneinander getrennt, als wäre ihre Reise zur Insel Naranduin eine Grenze, die zwischen den beiden Hälfte ihres Lebens lag und die sie mit ihrem Handeln überschritten hatten. Alles hatte sich durch dieses Ereignis geändert.
»Hätte es anders kommen können zwischen uns?«, fragte Andir.
Magolas zuckte mit den inzwischen breit gewordenen Schultern. Er blickte hinaus auf die schäumende See und zögerte mit einer weiteren Antwort. Der Wind strich ihm durchs Haar, und um seine Mundwinkel bildete sich ein Zug, der die innere Versteinerung widerspiegelte, die zwischen ihnen all die Jahre geherrscht hatte. »Nein«, murmelte er schließlich. »Ich glaube, wir waren Gefangene eines Schicksals.«
»Wer bestimmt dieses Schicksal?«
»Unser Vater war überzeugt davon, dass er selbst das Schicksal der Elben seit ihrer Ankunft im Zwischenland erschuf, weil er
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