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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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sich bereits zum Mittag, als ein Elbengardist kam, um sie zu holen. Sie lief hinter ihm her, und die Furcht vor der nahenden Befragung vertrieb alle Müdigkeit.
    Der langgestreckte Raum mit der niedrigen Balkendecke, zu dem der Gardist sie führte, lag im linken Seitenflügel des eingeschossigen Hauptquartiers. Er diente normalerweise als Schulungsraum, und man hatte ihn wohl gewählt, weil es dort ruhiger war als im zentralen Besprechungsraum. Vier ernst blickende Elben saßen an der Längsseite eines langen Tisches aufgereiht. Broneetes Blick glitt über die beiden Rotgekleideten, die gleich vor ihr saßen, und landete am Ende des Tisches bei Leutnant Antanas, der einen höchst ungewöhnlichen Anblick bot. Er kauerte zusammengesunken auf seinem Stuhl, hatte nachlässig den Uniformkragen geöffnet, und seine schrägstehenden katzengrünen Augen starrten abwesend auf die Tischplatte nieder. Aus seinem sonst so akkurat geflochtenen Zopf spitzten einige aufgelöste Strähnen hervor.
    An seiner Seite saß steif aufgerichtet Vize-Kommandeur Vilius und musterte die junge Gardistin scharf und missbilligend. Er war wie immer tadellos gekleidet, und sein Zopf war korrekt gebunden. Kein Fältchen und kein Stäubchen auf seiner Uniform störte das Erscheinungsbild des Offiziers. Der Kontrast in Haltung und Erscheinung zwischen den beiden Männern hätte wohl kaum größer sein können.
    Einer der rot gekleideten Bewahrer, eine imposante Erscheinung mit scharf geschnittenem Gesicht und durchdringendem Blick, das goldblonde, von silbernen Strähnen durchzogene Haar streng aus der hohen Stirn zurückgekämmt, räusperte sich. Durch die hohen Fenster im Rücken der Sitzenden fiel helles Sonnenlicht, brachte das prächtige Zinnoberrot und die goldenen Stickereien der offiziellen Roben zum Leuchten und fing sich weich glänzend in dem fein ziselierten Silberschmuck an seinen Ohrspitzen. »Gardistin, du weißt, wer ich bin?«, fragte er.
    »Glautas, der Oberste Tenttai der Bewahrer«, erwiderte die junge Frau voller Furcht.
    »Du weißt, warum wir dich gerufen haben.« Die Gardistin nickte beklommen. Glautas fuhr fort, während seine zwingenden dunkelblauen Augen sie mit großem Ernst fixierten: »Deinem Kommandeur wurde das Leben genommen, während du Wache vor seiner Tür hieltest. Was möchtest du uns dazu sagen?«
    Der jungen Elbin schwindelte. Etwas Ungeheuerliches hatte sich in dieser Nacht zugetragen. Der Kommandeur lag tot in seinem Quartier, aber sie selbst hatte nichts und niemanden hineingehen oder es wieder verlassen sehen. Horakin war von den Dunklen geholt worden, wie in einem alten Schauermärchen für Kinder.
    »Hoher Tenttai«, erwiderte Broneete zitternd, »ich habe vor dem Quartier Wache gehalten, wie es meine Pflicht war, und wenn ich in dieser Pflicht versagt haben sollte, kann ich mir das nicht erklären. Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen, und das ist die reine Wahrheit. Herr, es muss einen Grund für die Geschehnisse geben. Niemand kann durch Wände gehen, und selbst der mächtigste Magus wäre nicht ungesehen ins Hauptquartier und wieder hinaus gelangt. Könnte nicht etwas anderes der Grund für Kommandeuer Horakins Tod sein? Vielleicht war es ein Unfall?«
    »Ein Unfall«, sagte Glautas nachdenklich. Er neigte der neben ihm sitzenden Bewahrerin den Kopf zu, und sie sprach leise zu ihm. Sein Mienenspiel schien unergründlich, aber in der Tiefe seiner dunkelblauen Augen blitzte ein Funke, der seine äußerliche Gelassenheit Lügen strafte. Der Oberste Bewahrer war zutiefst aufgewühlt. Seine Finger spielten mit dem Smaragdring, drehten ihn um den Finger, auf dem er steckte.
    »Gardistin«, sagte die Bewahrerin, die an Glautas’ Seite saß, »würdest du erlauben, dass ich in deinem Geist lese? Es mag sein, dass du dazu gebracht wurdest, die nächtlichen Geschehnisse, derer du Zeugin wurdest, zu vergessen.«
    Die junge Elbin wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Eine Sondiererin!
    Die Bewahrerin lächelte ihr beruhigend zu. »Setz dich hierher«, flötete ihre sanfte Stimme. »Hab keine Angst. Es wird nicht wehtun, du wirst kaum etwas spüren. Eine leichte Berührung, möglicherweise, aber nicht mehr.«
    Mit einer schnellen Bewegung griff die Bewahrerin nach Broneetes Kopf und hielt ihn zwischen ihren Handflächen fest, sodass ihre Zeigefingerspitzen die Schläfen der Gardistin berührten und die Daumen über ihren Brauen lagen und sich in der Stirnmitte trafen. Auf diese legte sie nun ihre eigene

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