Eldorin – Das verborgene Land (German Edition)
aus den Geschichten
rausgesprungen, die unsere alte Köchin früher immer erzählt hat.«
»Waff?« Fiona spuckte die Zahnpasta ins Becken.
»Die alte Genevra Silberstein? Die ein bisschen übergeschnappt war?«
»Sie war nicht übergeschnappt. Sie hat einfach …
hinter die Dinge gesehen.«
»Sie war eine gute Geschichtenerzählerin.« Fiona
schraubte energisch die Zahnpastatube zu. »Man hat fast wirklich an Zauberei
und echte Elfen und solche Sachen geglaubt, wenn man ihr zugehört hat.«
Maya seufzte. »Ich habe ihr geglaubt. Na ja …
mal sehen, ob er beim Frühstück dabei ist.«
Aber ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Kurze
Zeit später hatten sich alle jungen Bewohner des Heims im Esszimmer
eingefunden, einem langgezogenen tristen Raum im Erdgeschoss mit einem riesigen
alten Holztisch in der Mitte und einer dunkelbraunen, düster wirkenden
Holztäfelung an Decke und Wänden. So richtig wohl fühlten sich hier eigentlich
nur die Spinnen, von denen soeben ein besonders prächtiges Exemplar über die
ausgebleichten, mottenzerfressenen Vorhänge krabbelte.
Obwohl das Zimmer mit fünfzehn Mädchen und
dreizehn Jungen recht voll war, ging es verhältnismäßig leise zu. Die
Heimleiterin legte Wert auf Disziplin.
Außer Frau Säuerlich, die ihr Essen separat
einnahm, sorgte eine weitere Angestellte für Ordnung. Frau Olm-Grottendunk war
deutlich kleiner als die Leiterin, aber ebenso füllig, was zur Folge hatte,
dass sie noch ein Kinn mehr besaß. Sie hatte die Vorliebe, sich in bunte
Bonbonfarben zu kleiden, ein Umstand, der ihr den Spitznamen Pralinenschachtel
eingebracht hatte. Die Kinder und Jugendlichen waren der Meinung, dass sie die
Bezeichnung Köchin nicht verdiente, doch war Kochen neben der übrigen
Hausarbeit bedauerlicherweise eine ihrer Aufgaben. Gab es Suppe, so hatte sie,
wie Maya fand, irgendein Kraut in heißem Wasser ertränkt. Gab es etwas anderes,
sah es aus wie Matsch in verschiedenen Schattierungen und schmeckte auch so.
Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden
Frauen ihre eigenen Lebensmittelvorräte besaßen. Nachdem die Pralinenschachtel
die gemeinsamen Mahlzeiten mit ihren Zöglingen überwacht hatte, setzte sie sich
regelmäßig zur Säuerlich ins hübsch eingerichtete Nebenzimmer, wo sie gewiss
etwas anderes als den üblichen Fraß zu sich nahmen. Einer der Jüngeren war
einmal versehentlich in diesen streng verbotenen Raum geraten und hatte
hinterher etwas von Kirschtorte, Schlagsahne und Apfelstrudel mit Vanilleeis
gestammelt.
Maya setzte sich beim Essen wie üblich zu ihren
besten Freunden Fiona und Max an den Tisch. Max war seit sieben Jahren im
Waisenhaus, sprach aber nie über den Grund. Maya war er gleich sympathisch
gewesen mit seinem freundlichen Gesicht und den meist ungekämmten blonden
Haaren. Sie hatte sich um ihn gekümmert, und dass er zwei Jahre jünger war als
sie, hatte keinen von ihnen gestört. Da bei Tisch Gespräche verboten waren,
raunte ihm Maya mit einem Seitenblick auf die Olm-Grottendunk zu: »Nach dem
Unterricht treffen wir uns unter der alten Eiche.«
Max nickte und widmete sich hingebungsvoll
seinem Haferbrei. Egal, wie sehr die anderen auch an dem Essen herumwürgten,
das sie vorgesetzt bekamen, Max schien es immer zu schmecken. Maya riskierte
einen Rüffel vonseiten der Köchin, die am Kopfende des Tisches thronte und
heute in Quietschrosa leuchtete.
»Was weißt du von dem Jungen, der heute Nacht
gekommen ist? Ist er bei euch im Schlafsaal? Oder haben sie ihn woanders
hingebracht?«
Max brachte wieder nur ein Nicken zustande,
wohl, weil er den Mund voll Brei hatte. Maya stöhnte.
»Warum beantworten Jungs Entweder-oder-Fragen so
gerne mit einem Nicken? Ich meine, ja ,
ist er bei euch im Schlafsaal, oder nein ,
ist er nicht?«
Max, der beträchtlich hungrig war, hatte bereits
für Nachschub gesorgt und schluckte verzweifelt. In diesem Moment klopfte Frau
Olm-Grottendunk mahnend mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und warf Maya
einen strengen Blick zu. Maya wollte keine Stunde Extrahausarbeit riskieren und
öffnete von da an den Mund nur noch zum Essen oder Trinken.
Nach dem Frühstück blieb nicht viel Zeit, in die
verschiedenen Klassenzimmer zu gelangen, wo Lehrer unterrichteten, die
außerhalb des Kinderheimes in einem der umliegenden Dörfer wohnten und meist
nicht mit Hausaufgaben sparten.
Wer hier lehrte, dem lag nichts am
Großstadtleben; das Aufregendste im Umkreis war der Kaninchenzuchtverein im
nahen Dorf
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