Eleanor Rigby
versetzte jedem der Jungen einen Klaps auf den Hinterkopf. »Wir sind hier nicht zu Hause, ihr Rabauken.« Die Jungs begannen zu schniefen, doch William sagte nur: »Guter Versuch, ihr kleinen Heulsusen. Bei eurer Mutter mag die Flennerei funktionieren, aber versucht das nicht bei mir, ja?« Er wandte sich wieder mir zu. »Sag mal, Lizzie, hast du einen Scotch oder so was?«
»Baileys. Noch von Weihnachten.« › »Warum nicht?«
Chase fragte: »Was ist Baileys?«
»Nichts für dich«, erwiderte sein Vater.
Die Jungs wurden still, zu still. Die Luft im Zimmer war so warm und stickig, als würde gleich ein Blitz einschlagen — wofür ich dann sorgte. Ich sagte: »Hat euer Vater euch eigentlich erzählt, dass ich mal eine Leiche gefunden habe?«
Die Augen quollen ihnen aus dem Kopf. »Was?« Bestätigung heischend schauten sie William an.
»Ja, das hat sie.«
»Wo? Wann?«
»In welcher Klasse warst du da, Lizzie, in der sechsten?« »In der fünften. Ich war genauso alt wie ihr jetzt.« »Und wie?«
William sagte: »Wenn ihr beide einfach mal den Mund halten würdet, erfahren wir's vielleicht.«
Ich reichte meinem Bruder seinen Baileys. »Ich ging auf den Bahngleisen spazieren.«
»Wo?«
»Draußen an der Horseshoe Bay.« Hunter fragte: »Allein?«
Chase sah mich an und sagte: »Hast du Freunde, Tante Lizzie?« Ich sagte: »Ja, danke, Chase. Jedenfalls war es Sommer, und ich pflückte Heidelbeeren — allein. Als ich um eine Ecke bog, entdeckte ich in den Weidenröschen am Bahndamm ein Hemd. Die Leute schmeißen alles Mögliche aus dem Zug — meistens Saftkartons und Limonadendosen -, daher beachtete ich es nicht weiter. Doch als ich näherkam, sah ich noch andere Farben — erst das Hemd und dann Schuhe. Und dann wurde mir klar, dass es ein Mann war.«
~9~
Das entsprach so weit der Wahrheit. Es war tatsächlich ein Mann, aber ich erzählte den Jungs nur die jugendfreie Version meines Erlebnisses. Sie waren zwar im gleichen Alter wie ich damals, aber irgendwie wirkten Chase und Hunter jünger. Kaum zu glauben — jetzt habe ich ihnen gegenüber die gleichen Vorbehalte, die die Leute zu jener Zeit mir gegenüber hatten.
Folgendes ist passiert: Es war August, und ich war heilfroh, den ganzen Nachmittag für mich allein zu haben. Ich fuhr mit dem Bus hinaus zur Horseshoe Bay, aß an einem Imbissstand am Fähranleger einen Cheeseburger und kletterte dann über steile Hänge und von Sprengungen übriggebliebene Felsbrocken bis zu den Gleisen der Pacific Great Eastern hoch. Ich hatte ein blauweiß kariertes Baumwollkleid an, das ich nicht leiden konnte, aber es war angenehm kühl. Bei einem ausgiebigen Spaziergang auf den Bahngleisen würden ihm ohnehin Öl, Chemikalien und Schmutz den Garaus machen, und diesen einen Tag konnte ich es noch darin aushalten. Vielleicht fragt ihr jetzt: Was macht ein zwölfjähriges Mädchen allein an so einem abgeschiedenen Ort in der Nähe einer Großstadt? Die einfache Antwort: So war das nun mal in den siebziger Jahren. Wenn Kinder ein gewisses Alter erreicht hatten, machten sie, was sie wollten, ohne dass ihre Eltern sich darum kümmerten, was, wo, wann und mit wem. Chase und Hunter hat man vermutlich Chips ins Steißbein implantiert, die William und Nancy über einen Microsoft-Todessatelliten jederzeit darüber informieren, wo sie sich befinden. Aber damals?
Mom, darf ich zu der Biker-Bar trampen?
Natürlich, Schatz.
Es war ein brütend heißer Augusttag. Alle Gerüche waren noch intensiver als sonst, und mir stieg etwas ziemlich Scheußliches in die Nase. Tatsächlich habe ich sofort geahnt, dass es der Gestank eines halb verwesten Körpers war. Dieses Wissen muss angeboren sein. Als ich mich ihm näherte, war ich beinahe froh; ich redete mir ein, dass ein kurzes Leben voller Detektivromane, Fernsehserien und heimlicher Visionen mich auf diesen Moment vorbereitet hatte. Ein Verbrechen, das aufgeklärt werden muss. Hinweise, die es zu finden gilt.
Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen. Ein paar Kinder in der Schule hatten mal einen Autounfall miterlebt, worum ich sie beneidete, aber das hier? Das hier war Mord, und dazu ein grausiger. Der Körper des Mannes war in der Mitte durchtrennt, und die beiden Hälften waren im rechten Winkel zueinander hingelegt worden. Der untere Teil der Leiche trug einen geblümten Rock und kniehohe Stiefel, der obere ein kariertes Holzfällerhemd. Das Gesicht war unversehrt, ein ziemlich attraktives Männergesicht. Trotz der dicken
Weitere Kostenlose Bücher