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Elegie - Herr der Dunkelheit

Elegie - Herr der Dunkelheit

Titel: Elegie - Herr der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Carey
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zurückkehrten, begann ihr Bauch sich schon zu wölben.
    Mein Vater war keineswegs verzagt und hatte die Stirn, seinen alten Herrn um eine weitere Chance zu bitten, da, wie er behauptete, die Reise zu lang, die Karawane zu schlecht ausgestattet und er selbst noch zu unerfahren in den Gepflogenheiten des Handels gewesen sei. Dieses Mal, so schwor er, würde alles anders werden. Und dieses Mal stellte mein Großvater, der Handelsfürst, eine Bedingung. Er wollte meinen Eltern eine zweite Chance gewähren, wenn sie etwas eigenes als Bürgschaft beisteuerten.
    Was hätten sie anderes tun sollen? Wohl nichts. Da mein Vater meiner Mutter untersagte, ihre Talente feilzubieten, war ich ihr einziges Gut. Gerechterweise muss man sagen, dass sie sicher vor dem Gedanken zurückgeschreckt wären, mich auf dem freien Markt in die Leibeigenschaft zu verkaufen. Es sollte zwar dennoch dazu kommen, doch ich glaube, dass keiner der beiden dies voraussehen konnte. Nein, stattdessen nahm meine Mutter, der ich eigentlich dafür dankbar sein müsste, all ihren Mut zusammen und bat um eine Unterredung mit der Doyenne des Cereus-Hauses.

    Cereus ist und war immer schon die Königin aller Dreizehn Häuser. Es wurde vor sechshundert Jahren von Enediel Vintesoir gegründet, und aus ihm ging schließlich das Nachtpalais hervor. Seit der Zeit Vintesoirs war es Sitte, dass die Doyenne des Cereus-Hauses das Nachtpalais mit einem Sitz im Obersten Gericht der Cité vertrat; ebenso heißt es, dass viele Doyennes dieses Hauses das Vertrauen des Königs genossen haben sollen.
    Es mag wahr sein; soweit ich unterrichtet bin, ist es durchaus möglich. Zu Lebzeiten seines Begründers diente das Cereus-Haus nur Naamah und den Nachfahren Eluas. Doch seit dieser Zeit erfuhr der Handel einen großen Aufschwung, und während das Palais zu voller Pracht erblühte, wurde seine Kundschaft auffallend bürgerlicher, wie man durch meinen Vater bestätigt sieht. Aber nach allem, was man hörte, war die Doyenne des Cereus-Hauses nach wie vor eine beeindruckende Persönlichkeit.
    Wie jeder weiß, ist Schönheit am ergreifendsten, kurz bevor die kalte Hand des Todes nach ihr greift, um sie welken zu lassen. Auf solch hinfälliger Vergänglichkeit war der Ruhm des Cereus-Hauses begründet. In den Zügen der Doyenne konnte man immer noch den gespensterhaften Widerhall ihrer einst strahlenden Schönheit erkennen, so wie eine getrocknete Blume zwar spröde und zerbrechlich ihre Form bewahrt, doch jegliche Essenz verloren hat. Wenn Schönheit vergeht, beugt die Blume im vorgesehenen Lauf der Dinge ihr Haupt auf dem Stängel und stirbt. Doch manchmal, wenn die Blütenblätter welken, kommt dahinter ein Gerüst aus gehärtetem Stahl zum Vorschein.
    So verhielt es sich auch mit Miriam Bouscevre, der Doyenne des Cereus-Hauses. Dünn und fein wie Pergament war ihre Haut und ihr Haar vom Alter weiß, aber ihre Augen, ach! Sie saß unbeweglich und aufrecht wie ein siebzehnjähriges Mädchen auf ihrem Stuhl, und sie hatte Augen wie ein Luchs, so grau wie Stahl.
    Ich erinnere mich noch, wie ich im Innenhof auf marmornen Fliesen stand und die Hand meiner Mutter hielt, während sie stammelnd von ihrer verzweifelten Lage berichtete. Das Aufflammen wahrer Liebe, die Flucht, die Anordnung ihrer eigenen Doyenne,
der Misserfolg der Karawane und die Forderung meines Großvaters. Ich erinnere mich auch, wie sie von meinem Vater immer noch voller Liebe und Bewunderung sprach, überzeugt, dass die nächste Börse, die nächste Reise ihn zum Erfolg bringen würden. Ich weiß noch, wie sie mit mutiger und zitternder Stimme all die Jahre im Dienste Naamahs anführte und Eluas Gebot zitierte: Liebe, wie es dir gefällt. Und ich erinnere mich, wie schließlich der Fluss ihrer Stimme versiegte und die Doyenne eine Hand hob. Sie hob sie nicht wirklich, sondern regte gerade einmal zwei mit unzähligen Ringen geschmückte Finger.
    »Bring das Kind zu mir.«
    Wir näherten uns ihrem Stuhl, und meine Mutter zitterte, während ich seltsam furchtlos war, so wie Kinder es in den unpassendsten Momenten zu sein pflegen. Die Doyenne hob mein Kinn mit einem ringbeladenen Finger und musterte meine Züge.
    Durchfuhr etwa ein irgendwie geartetes Zucken, eine gewisse Unsicherheit ihre Haltung, als ihr Blick auf den scharlachroten Fleck in meinem linken Auge fiel? Auch heute noch bin ich mir nicht sicher; und falls es so war, ging es schnell vorüber. Sie zog die Hand zurück und wandte den Blick wieder meiner Mutter

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