Elfenwinter
blonde Junge war zwölf Sommer alt gewesen. Jetzt fiel Gundar auch wieder sein Name ein: Finn. Er lehnte zusammengesunken an der Tür, die seitlich aus dem Stall führte. Seine Hände drückten noch immer gegen das graue Holz. Die Tür hatte sich nur einen schmalen Spalt breit geöffnet. Schnee wehte in den Stall.
Gundar kniete neben dem Jungen nieder. Probehalber drückte er gegen die Tür. Sie bewegte sich kaum einen Zoll. Der Priester hob die Lampe an und spähte durch den Spalt nach draußen. Eine Schneewehe hatte die Tür versperrt. Der Schnee lag hüfthoch. Selbst ein kräftiger Mann hätte diese Tür nicht öffnen können. Finns Augen starrten in die Dunkelheit. Gundar wollte ihm die Lider zudrücken, um dem Blick zu entgehen, doch die trockene Haut zerriss.
Wo waren die anderen? Aesa, so hieß die Tochter. Und Tofi, der Jüngste. Der tote Junge blickte zum Schlitten hinüber…
Gundar schluckte. Er hatte Angst vor dem, was er finden würde. Mit weichen Knien ging er hinüber. Eine bunte Pferdedecke lag über der Sitzbank. Darunter malten sich undeutliche Umrisse ab. Mit einem Ruck zog er die Decke zurück. Dort lag nur das Pferdegeschirr. Vielleicht waren die Kinder ja entkommen. »Aesa! Tofi! Ich bin es, Gundar, der Priester aus Firnstayn. Ihr braucht euch nicht mehr zu fürchten.«
Gundar lauschte in die Dunkelheit. Der Sturmwind fmg sich heulend unter dem Dachgiebel. Holz klapperte. Der Priester fuhr erschrocken herum. Etwas war in der Scheune!
»Wer dort?«
Wieder fuhr eine Bö heulend unter den Giebel. Ganz leise war ein heiseres Geräusch zu hören. Ein Flüstern!
Gundar stand der Atem vor dem Mund, so kalt war es. Die Hand, mit der er die Öllampe hielt, zitterte. Schatten tanzten über die Wände des Stalls.
Der Priester begann leise zu beten. Schritt um Schritt ging er zurück. Die Forke! Sie war Thorfinns Händen entglitten. Jemand musste daran gestoßen sein.
»Im Namen des Schicksalswebers, komm heraus!« Da war wieder dieses Flüstern. Vor seinen Füßen! Thorfinns Mund zuckte. Die Lippen waren vertrocknet und so weit zurückgezogen, dass man die gelben Zähne des Bauern sehen konnte. Heisere Laute entrangen sich seiner Kehle. Thorfinns himmelblaue Augen waren auf Gundar gerichtet.
»Kin… «
Gundar beugte sich vor, um ihn besser verstehen zu können.
»Kinder… das Licht… Ich sehe…«
»Schone deine Kräfte, Thorfiinn. Ich bringe dich zum Feuer.« Der Priester versuchte, den Bauern auf die Arme zu nehmen.
Thorfinns Hand schnellte vor. Sie umkrallte Gundars Linke. Die Haut war dünn wie fein geschabtes Pergament. Deutlich konnte Gundar die Knochen spüren. Es fühlte sich an, als habe ihn eine Hand aus einem Grab gepackt. Er wollte sie abstreifen, doch Thorfinn bot all seine Kräfte auf, ihn zu halten.
»Lebensfaden… fressen… Wolfspferd.«
»Ein Wolfspferd?«
»Die Tür… Es geht hindurch… Einfach hindurch…«
»Wo sind deine Kinder?«
Ein Zittern durchlief den ausgemergelten Körper. »Einfach hindurch…« Über Thorfinns Wange rann eine einzelne Träne. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Er schien seinen Frieden gefunden zu haben. »Sie warten auf… «
»Ich bring dich hinunter zum Dorf«, flüsterte Gundar hilflos.
Ein Röcheln kam tief aus der Brust des Sterbenden. Seine Hand löste sich aus der Umklammerung. Die Augen verloren ihren Glanz.
»Mögen die Götter dir auf dem Weg durch die Dunkelheit leuchten, dir ihre Hallen öffnen und dich zum Gast bei ihrem ewigen Fest machen, denn du warst ihnen ein treuer Diener und deine Seele ist… «
Thorfinn bäumte sich auf. Wieder spiegelte sich unsägliches Entsetzen in seinem Antlitz, als sei er auf der Reise in die ewige Nacht noch einmal dem Schrecken begegnet, der den Wehrberghof heimgesucht hatte. Sein Mund öffnete sich. Verzweifelt versuchte der Bauer noch etwas zu sagen. Sein ausgezehrter Leib spannte sich und sackte dann plötzlich zurück. Thorfinns Lebenslicht war endgültig verloschen.
Die kleine Flamme der Öllampe blakte und begann zu schrumpfen. Bald war sie nur noch ein winziger Funken. Gun-dar versuchte sie mit den Händen vor der Zugluft zu beschirmen. Vorsichtig stellte er die Lampe auf den Boden. Rotes Licht sickerte durch den Türspalt zur Stube.
Gundar kniete nieder und betete inbrünstig, dass das Licht nicht ganz verlöschen möge. Es waren nur wenige Schritte bis zur Tür, aber die Dunkelheit erschien ihm wie ein endloser Abgrund. Nicht einmal als Kind hatte er solch eine Angst vor
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