Elfenwinter
Hal-gard erlösen. Aber durfte er ihn mitnehmen? Was geschah, wenn sie dem Ungeheuer tatsächlich begegneten? Doch konnte das nicht auch im Dorf geschehen? Und wenn er Ulric zurückbrachte, würde er dann noch einmal den Mut finden, hier heraufzukommen? Jetzt, da er wusste, dass die Bestie auch hier oben war?
Ulric sah ihn jetzt an. Er konnte den Jungen nicht zurückschicken. »Sei mein Kampfgefährte bei dieser Queste.« Gundar war überrascht, wie rau seine Stimme klang. Der Junge hatte eine Tür in eine Welt geöffnet, die ihm lange verschlossen gewesen war. Eine Welt, in der der Glaube, dass am Ende alles gut werden würde, noch nicht von Jahrzehnten bitterer Erfahrungen gemordet war.
Die Scheite, die Gundar in die Glut geworfen hatte, waren halb herabgebrannt. Die Dunkelheit kehrte wieder in die Winkel der Stube zurück, als sie am langen Tisch Platz nahmen. Der Priester schöpfte ihnen zwei Teller Hirsebrei aus dem Kessel, und er fand etwas altes Brot.
»Wo sind Thorfinn und seine Familie?«, fragte Ulric unvermittelt, als er sein Brot in den Brei tunkte.
Gundar atmete tief aus. Konnte er ihm die Wahrheit sagen? Würde eine Lüge nicht die Tür wieder zuschlagen, die der Junge ihm gerade geöffnet hatte? »Sie sind gegangen«, sagte er schließlich ausweichend.
»Wohin? Im Sturm dürfen sie doch nicht draußen bleiben.«
»Sie sind tot, Ulric. Ein Wolfspferd… Eine Geistergestalt… Sie war hier. Die Kreatur, die auch Halgard beinahe getötet hätte.«
Der Junge legte den Brotkanten auf den Tisch zurück.
»Das Tier hat sie alle getötet?«, fragte er ganz leise. »Auch die Kinder?«
Gundar nickte. »Ja, auch die Kinder.« Er schob die Schüssel von sich. Das wäre ihr Abendessen gewesen. Er konnte nicht mehr…
»Wo sind sie?« Ulric rückte näher. Schließlich legte Gundar dem Jungen den Arm um die Schultern und zog ihn ganz zu sich heran. »Sie sind in der Scheune. Wir können sie jetzt nicht begraben. Ich werde sie holen lassen, wenn wir wieder im Dorf sind.«
»Sehen sie alle aus wie Alfeid?«
»Ja.«
»Es ist gut, dass Halgard ihre Mutter so nicht sehen konnte. Sie sah so…« Ulric begann plötzlich zu schluchzen.
Gundar drückte den Jungen fest an sich. Auch er war den Tränen nahe.
Schließlich schoben sie den Tisch und die Sitzbank zur Seite. Auf dem binsenbedeckten Boden breiteten sie dicht bei der Feuerstelle ihre Mäntel aus. In den Betten der Toten konnten sie nicht schlafen. Es kam ihnen unrecht vor.
Schweigend lagen sie nebeneinander und lauschten dem Knistern des Feuers und dem Sturm.
»Siehst du es auch?«, flüsterte Ulric. »Dort oben, ganz in der Ecke. Es sitzt auf dem Dachbalken und beobachtet uns.« Seine Stimme zitterte. »Ist es das? Das Wolfspferd?«
Gundar blinzelte. Da war tatsächlich etwas Weißes. Ein Kopf? Die Worte Thorfinns kamen ihm wieder in den Sinn. Es geht hindurch… Einfach hindurch… Saß die Bestie auf dem Dach und hatte ihren Kopf durch die Schindeln hindurchgeschoben, um sie zu beobachten? Gundar blinzelte. Er konnte einfach nicht deutlich sehen. Er schlug den Mantel zurück, sprang auf und warf eine Hand voll Holzspäne in die Glut. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis helle Flammen emporschlugen.
Ulric hatte seinen Dolch gezogen, bereit, jeden Augenblick zuzustoßen. Der Junge schien keine Furcht zu kennen. Unvermittelt brach er in lautstarkes Gelächter aus. »Da sitzt ein Huhn!«
Gundar kniff die Augen zusammen. Tatsächlich! Dort lauerte kein Geist. Ein verschrecktes Huhn drückte sich ganz am Ende des Balkens gegen die Dachschräge. Es musste durch den offenen Türspalt aus dem Stall geflüchtet sein. Der Priester fiel in Ulrics Lachen ein. Es war befreiend. Vielleicht konnten sie ja wirklich siegen, und es wurde alles wieder gut, wenn sie den geschändeten Eisenmann fanden und für Oles Frevel um Vergebung baten.
Sie legten sich wieder hin. Bald war der Junge eingeschlafen.
Gundar stützte sich auf den Ellenbogen auf und betrachtete Ulric. Der Kleine lächelte.
Der alte Priester streckte sich und rollte sich in seinen Mantel. Ob er wohl auch noch manchmal im Schlaf lächelte? Was für ein törichter Gedanke, dachte er müde. Und wer sollte ihm schon beim Schlafen zusehen? Vom Feuer war nur ein mattes Glühen geblieben. Im Dunkel hinter dem Tisch regte sich etwas. Eine Spinne mit einem Leib groß wie ein Schwein sah zu ihnen hinüber. Ihre Kiefer klickten leise. Nein, sie sprach: »Bei der Spinne unter dem Regenbogen liegt mein
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