Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
zurückzurufen, hatte Tanner erfahren müssen, dass Abe noch am selben Abend auf ungeklärte Weise gestorben war. Ein erster Beweis dafür, dass die verstümmelten Hinweise keine bloßen Hirngespinste eines alternden Mystikers waren. Die Anderswelt gab es wirklich, und sie war in greifbare Nähe gerückt. Endlich zahlte sich Tanners lebenslanges Interesse an Mythen und Magie aus. Und vielleicht brachte es ihm die Rettung und – noch viel überraschender – die ersehnte Befriedigung.
Ohne sich um Recht und Gesetz zu scheren, hatte er sich in einer Blitzaktion den Nachlass seines Freundes gesichert und die Kisten im Eilverfahren nach New York schicken lassen. Ein kluger Schachzug und außerordentlicher Glücksfall, wie sich herausgestellt hatte. Denn die Aufzeichnungen hatten weitere wichtige Hinweise und konkrete Namen zutage gefördert.
Nadja Oreso
. Der Name verursachte Tanner ein wohliges Kribbeln in der Magengrube.
Nadja Oreso
. Sie war die Antwort auf seine unausgesprochenen Gebete. Eine halbe Elfe, zum Greifen nah. Noch hatte er sie nicht getroffen und besaß nichts als ein Bild von ihr. Das und die Informationen aus Abes Nachlass. Aber es genügte, um sie zu wollen – sie zu begehren wie nichts anderes auf der Welt.
Um an sie heranzukommen, galt es, Umwege zu gehen. Da waren Robert Waller und Anne Lanschie. Wanderer zwischen den Welten? Ebenfalls leibhaftige Elfen? Oder von beidem etwas? Egal. Er, Saul Tanner, würde es bald herausfinden und ihr Wissen über den Quell der Unsterblichkeit an sich reißen. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Deshalb die Reise nach Europa. Denn während Nadja wie vom Erdboden verschwunden zu sein schien, hatte der Detektiv die anderen beiden in Bratislava ausfindig gemacht.
Die Slowakei war immer schon ein ergiebiges Pflaster für Feldforschungen gewesen. Geschichten über blutsaugende Monster, Werwölfe und dämonische Riten gab es in dem ehemals ungarisch-österreichischen Gebiet zuhauf; genau wie Korruption und illegalen Handel.
»Möchten Sie, dass ich die übliche Strecke abfahre, Sir?«, unterbrach der Chauffeur Tanners Gedankenkette, während sie zusammen mit dem immerwährenden Strom gelber Taxis auf die 34. Straße Richtung Broadway abbogen.
»Nein. Heute haben wir keine Zeit für eine Ouvertüre. Bring mich direkt ins >Duvet<.«
»Wie Sie wünschen, Sir.«
Auch ohne sein Gesicht sehen zu können, wusste Tanner, dass sich Micks Mundwinkel zu einem verschmitzten Lächeln verzogen. Der alte Kauz war lange genug sein Fahrer, um auch die abgründigsten seiner Neigungen zu kennen. Dabei bewahrte er gegenüber Mrs. Tanner und Sauls Tochter stets die nötige Diskretion. Eine solche Loyalität beherrschten in der modernen Welt nur noch wenige Bedienstete.
Tanner seufzte auf und lockerte seinen Krawattenknoten. Dann nahm er den Schlips ab, öffnete den obersten Hemdknopf und richtete den Kragen. Noch ein Spritzer Eau de Toilette, und die Jagd konnte beginnen.
Das »Duvet« war für sein ganz spezielles Ambiente bekannt. Vordergründig ein Nachtklub mit Bar und Restaurant, wurde auch dem Unbedarftesten nach dem Betreten schnell klar, worauf ein dort verbrachter Abend in der Regel hinauslief. Zwei Drittel der luxuriösen Einrichtung bestanden aus mit feinster Seide überzogenen Kingsize-Betten, im ersten Stock frei im Raum verteilt und mit Tischinselchen für die Unentschlossenen bestückt. Im Erdgeschoss befanden sich private Separees nebst großzügigen Waschräumen. Hauseigene Bademäntel und Pantoffeln gegen Aufpreis lagen selbstverständlich in Reichweite.
Die Limousine glitt gemächlich den Broadway nach Süden hinab, bog zwei Blocks hinter dem Flatiron Building nach Westen in die 21. Straße ein und hielt schließlich vor dem umdrängten Eingang des Nachtklubs. Dort, wo Geld und Laster zusammentrafen, sammelte sich wie gewöhnlich eine bunt gemischte Schar aus Mitläufern, Schmarotzern und unentdeckten Sternchen um die Glamour verheißende Einrichtung.
Saul Tanner musste sich selbstverständlich nirgendwo anstellen. Neben einem würdigen Auftritt und dem einen oder anderen Trinkgeld halfen die typisch amerikanischen Statussymbole, um gewisse Türen zu öffnen: eine sportliche Figur, ein gepflegter Haarschnitt, der Anzug von Armani, maßgeschneiderte Gucci-Schuhe und der obligatorische Siegelring.
Mick hielt die Wagentür auf. Noch einmal strich sich Tanner mit beiden Händen über das kurze, grau melierte Haar und trat anschließend mit gestrafften
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