Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
befördern. Auch sein Zugang vom Auto in die Privaträume war absolut geschützt. Nein, er mied die Sonne, weil er sich von ihr nicht beherrschen lassen wollte.
Der Mond dagegen war ihm ein Verbündeter. Sein Einfluss gab Tanner Gelegenheit, seine Spiele mit den Menschen zu treiben.
Während der Bentley langsam die Straßen entlangfuhr, krochen die ersten Nachtschwärmer aus ihren Löchern. In Gruppen wimmelten sie über die breiten, mit schwarzen Müllsäcken gepflasterten Bürgersteige und sickerten in die umliegenden Pubs, Bars und Schnellimbissläden. Manhattans Wolkenkratzer standen stumm Spalier und wachten über den Geist dieser magischen Stadt, in der Hässlich und Schön, Jung und Alt, Arm und Reich sowie Gut und Böse so dicht wie nirgendwo anders nebeneinander lebten. Der Übergang zwischen den Welten war dort schon immer dünner, durchlässiger gewesen. In New York waren Geschichten über Wunder nicht nur verbale Lockmittel der Gottgetriebenen. Erzwingen konnte man sie indes nicht.
Der Multimillionär atmete tief ein und aus, spürte dabei dem unsichtbaren Feind in seinen Lungen nach und wünschte sich eine Zigarre. Er würde selbst für ein Wunder sorgen müssen. Ein knappes Jahr war es her, dass er seinen hartnäckigen Husten hatte untersuchen lassen. Noch am Tag der Diagnose hatte er mit dem Rauchen aufgehört. Und obwohl das Jahr Saul Tanner sprichwörtlich davongerannt war, fühlte es sich im Rückblick wie eine halbe Ewigkeit an. So viele Hebel hatte er in Bewegung gesetzt, Kontakte genutzt und Gelder lockergemacht. Nichts davon hatte das ärztliche Urteil mildern können: kleinzelliges Lungenkarzinom im Endstadium.
Selbst bei einer Kombination aus intensiver Chemound Strahlentherapie lagen die Heilungschancen unter zehn Prozent. Aus Tanners Sicht neunzig Prozent zu wenig, um sich nur für den Versuch in ein hilfloses Häufchen Elend verwandeln zu lassen. Also war er seinen eigenen Weg gegangen. Wie immer. Nicht nur, um seine Schwäche vor der Familie zu verheimlichen, sondern weil er es schlicht und einfach nicht gewohnt war, Kontrolle abzugeben. Daran wollte er sich auch in Zukunft nicht gewöhnen müssen.
Zeit war schon etwas Merkwürdiges. So selbstverständlich für den Menschen wie das Atmen. Ein Ticken der Armbanduhr. Der Wechsel von Tag und Nacht. Ein Samenkorn geht auf und bringt eine fruchtbare Ähre hervor, um sich wenige Augenblicke später in Humus zu verwandeln. Die Zelle, die sich zu einer Kaulquappe bis hin zum Frosch entwickelt und schließlich zu Staub zerfällt.
Ob es einem bewusst war oder nicht, Zeit war der Grundstoff allen Bestehens. Große Reden mochten kurzfristig zu Macht verhelfen, doch Worte ohne Taten blieben substanzlos. Erst eine Reaktion machte eine Aktion messbar. Erst die Vergangenheit einer Person definierte, wer sie war.
Zeit bildete den alles entscheidenden Faktor, der ein Wesen zu einem Sklaven des Kreislaufs von Werden und Vergehen herabsetzte oder aber zu einem Gott erhob. Ein wiederkehrendes Muster in den Mythen der Welt, ganz egal in welcher Kultur man danach suchte.
Allzeit. Nichtzeit.
Göttliches Nirwana. Absolutes Sein.
All das lief auf dasselbe hinaus: Sieg über den Tod. Das Aussetzen des Lebensrads. Die Auflösung der Zeit. Unsterblichkeit.
Gedankenverloren strich Tanner über die champagnerfarbene Sitzbank. Der großzügig bemessene Innenraum der Limousine war mit Connolly-Leder ausgekleidet – Symbol für puren Luxus, seit die Firma Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Krönungskutsche von Edward VII. gepolstert hatte. Reichtum verschaffte eine gewisse Bewegungsfreiheit im Leben. Doch in seiner Handhabung spielten viele Einflüsse eine Rolle. Connolly zum Beispiel hatte durch die wirtschaftlichen Nachwehen der Terroranschläge vom 11. September 2001 Konkurs anmelden müssen. Übrig blieb nichts als die verschwommene Erinnerung an vergangene Größe.
Ticktack, ticktack, ticktack.
Die Zeit lief für jeden irgendwann ab.
Aber nicht für mich
, dachte Saul Tanner mit neu gewonnener Entschlossenheit.
Durch das getönte Verdeckfenster wanderte sein Blick hinauf zu dem schmalen Streifen Himmel, den die Straßenflucht freigab. Glitzernde Stecknadelköpfe schmückten die Weite des Alls, umhüllt von obsidianfarbener Schwärze – ebenso schillernd wie die Möglichkeiten, die sich Tanner so unverhofft eröffnet hatten.
Eine zerstückelte E-Mail von Nicholas Abe hatte den Anfang gebildet. Bei dem Versuch, seinen ehemaligen Lehrer
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