Elfenzeit 12: Ragnarök - Schartz, S: Elfenzeit 12: Ragnarök
weder Geld noch Papiere …«
Die junge Frau winkte ab. »Das regeln wir schon irgendwie, vor allem aber später. Denkst du, wir jagen jemanden in Not in den Gletscher? Außerdem arbeitet meine Freundin im Modegeschäft, und dieses Zeug wird gerade günstig abverkauft. Ich kriege sogar Prozente.«
»Aber …«
»Zier dich nicht und komm mit.«
Ihr blieb nichts anderes übrig. Es hatte auch keinen Sinn, sich zu wehren – sie brauchte etwas Passendes zum Anziehen. »Ich werde dir meine Adresse geben und dir das Geld schicken, sobald ich meine Sachen wiederhabe.«
»Aber klar.« Jónína verdrehte die Augen. »Typisch deutsch, echt.«
Nadja zog es vor zu schweigen, außerdem hatte sie ein anderes Problem; sie wusste nicht, ob sie gehen konnte. Die Paste war vollständig in ihre Füße eingezogen, und sie sahen tatsächlich wieder ganz normal aus. Als sie sich bewegte, maunzte der Kater, der immer noch auf dem Kissen geschlafen hatte, gähnte und streckte eine Pfote aus. Dann drehte er sich um, rollte sich ein und schlief weiter.
Vorsichtig stellte Nadja sich auf die Füße und war erleichtert, dass es ging. Es tat weh, war aber gut auszuhalten. Barfuß humpelnd folgte sie Jónína nach oben, die ihr ein Gästezimmer und das Bad gleich nebenan zeigte.
»Mit dem Durchlauferhitzer hast du immer warmes Wasser«, erklärte sie, zeigte die Bedienung und packte eine gefüllte Kosmetiktasche aus einer Tüte. »Bedien dich, ist alles da.«
Die Tüten stellte Jónína im Gästezimmer ab; es war klein, aber gemütlich, mit Holzkastenbett, Schrank, Tischchen und Stuhl. Das Fenster gab den Blick frei auf den über der Senke thronenden Vatnajökull, ein krasser Kontrast von Grün und Weiß.
Jónína breitete auf dem Bett Jeans, T-Shirt, Bluse, Pullover mit V-Ausschnitt, Wetterjacke, Unterwäsche, Socken und Trekkingschuhe aus. »Die Jeans kann sowohl vor- als auch nachher getragen werden.« Sie zeigte Nadja die einknöpfbare Erweiterung für den Schwangerschaftsbauch. »Schau dir die Größen mal an.«
Nadja sah auf den ersten Blick, dass alles passen würde, einschließlich der Schuhe. »Dein Vater hat dich zum Vorbild genommen, was?«, fragte sie lächelnd. Die beiden Frauen waren sich von der Figur her einigermaßen ähnlich.
»Das war leicht.«
»Ihr seid wie die rettenden Engel für mich«, murmelte Nadja. »
Melasól
, was heißt das eigentlich?«
»Das ist ein arktischer Mohn, die gelbe Pflanze dort draußen am Wegesrand. Der hält Extreme aus, und dass mein Vater hier seinen Hof hat,
ist
solch ein Extrem. Meine Mutter hat den Hof so genannt und ist nach fünf Jahren abgehauen.« Jónína grinste. »Sie lebt jetzt in Reykjavík, und ich wohne bei ihr. Mein Vater ist hiergeblieben, mag der Himmel wissen, warum. Gottverlassener geht es kaum.«
»Er scheint nicht unglücklich zu sein, sondern macht einen recht ausgeglichenen Eindruck auf mich.«
»Man könnte es auch Lethargie nennen. Isländer sind gern deprimiert. Diese Insel macht einen einfach kirre. Aber wir können auch nicht von ihr lassen.«
Nadja nickte. »Ich habe schon einige Sendungen über Island im Fernsehen gesehen und ein paar Islandkrimis gelesen. Es ist eine sehr fremde Welt für mich, muss ich gestehen, obwohl ihr ebenfalls zu Europa gehört und Germanen, Kelten und so weiter seid, genau wie wir. Inselvölker sind immer ein bisschen seltsam, das ergibt sich aus ihrer isolierten Lage und der Beengtheit des Raumes. Trotzdem seid ihr noch einen Tick anders.«
»Das macht die Sonne.« Jónína hob die Schultern. »Und du hast heute ganz besonderes Glück gehabt, dass es ziemlich sommerlich ist, denn eigentlich lauert der Winter schon. Es wird jetzt schnell gehen.«
»Den wievielten September haben wir eigentlich?«, fragte Nadja aufs Geratewohl. Das war eine ganz normale Frage – falls sie sich nicht im Monat geirrt hatte. Aber nur so konnte sie es herausfinden, und es erschien ihr anhand ihres Zustands und des Wetters am wahrscheinlichsten.
»Den sechzehnten«, antwortete Jónína. »Jetzt pflege dich erst mal, wir können uns nachher weiter unterhalten. Du findest mich unten in der Küche, beim Vorbereiten. Ingolfir hat heute seinen Fünfundvierzigsten, und eine Menge Leute werden kommen. Erinnere ihn aber bloß nicht an seinen Geburtstag, sonst ertränkt er sich sofort im See. Er findet es ganz schrecklich, älter zu werden, damit kokettiert er richtig.«
»Oh weh«, sagte Nadja unglücklich. »Da war mein Timing aber nicht besonders
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