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Elfenzorn

Elfenzorn

Titel: Elfenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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roch, war nicht die chemische Hinterlassenschaft der Polizei, sondern einfach der Gestank der Stadt, in der sie aufgewachsen war.
    Sie fragte sich, warum ihre Stiefel sie hierhergeführt hatten. Bestimmt nicht nur, damit sie um Esteban trauern konnte.
    Nachdenklich sah sie sich um, ließ ihren Blick durch den Raum schweifen (wobei sie es ganz bewusst vermied, den dunklen Fleck hinter dem Schreibtisch anzusehen, der an der Stelle zu sehen war, an der Esteban gelegen hatte) und betrachtete noch einmal die kleinen Plastikschilder. Ihrer Anzahl nach zu schließen, musste die Polizei so ziemlich jedes Staubkorn fotografiert haben, das es hier drinnen gab. Selbst unmittelbar vor ihren Füßen stand eine schwarze »1« auf schmuddelig-weißem Grund, die ein centgroßes rundes Loch im Fußboden markierte.Das Holz um sie herum war dunkel verfärbt, und Pia erinnerte sich daran, wie Alica den Fuß des Barbarenkriegers mit ihrem Pfennigabsatz perforiert hatte. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, tastete mit den Fingerspitzen danach und stellte mit einem Gefühl leiser Überraschung fest, dass das Holz noch feucht war, wo es sich mit dem Blut des Barbaren vollgesogen hatte. Nach all der Zeit?
    Wenn es wirklich all die Zeit gewesen war.
    Pia blieb eine geraume Weile reglos in der Hocke sitzen und dachte angestrengt nach. Seit Alica und sie in diesem Zimmer um ihr Leben gekämpft hatten und geflohen waren, waren viele Tage vergangen, Wochen … aber was, wenn das nicht stimmte? Was, wenn ihr allererster Eindruck richtig gewesen war, und hier tatsächlich nur wenige Tage vergangen waren, vielleicht sogar nur Stunden?
    Sie dachte an Hernandez, der nur kurz vor Alica und ihr in die Welt der Schattenelben und Orks gewechselt war und doch von sich behauptet hatte, seit zwölf Jahren dort zu sein, und erneut fiel ihr auf, wie sonderbar frisch hier alles wirkte. Vielleicht sah dieses Zimmer ja nicht nur so aus, als wäre die Polizei gerade erst abgerückt.
    Einen Moment lang suchte sie fast verzweifelt nach Argumenten, um diese verrückte Idee zu widerlegen, aber allzu viele fand sie nicht. Sie hatte an die zwölf Jahre, von denen Hernandez gesprochen hatte, nie so recht geglaubt, aber er war sichtbar gealtert, um Jahre, nicht um Stunden; und hatte nicht auch Valoren eine entsprechende Andeutung gemacht, über verschiedene Welten und verschiedene Gesetze, denen die Zeit in ihnen gehorchte? Sie hatte die Bemerkung als den üblichen Humbug abgetan, als genau den pseudoesoterischen Quatsch, den man von einer Wahrsagerin in einem bunten Zelt auf dem Jahrmarkt zu hören erwartete.
    Und was, wenn sie die Wahrheit gesagt hatte und –
    Irgendetwas … tappte . Das Geräusch war leise, aber so nahe,als hätte es seinen Ursprung irgendwo in diesem Raum, doch als sie erschrocken hochsprang und sich herumdrehte, war sie allein. Ganz kurz glaubte sie ein körperloses Huschen in den Schatten wahrzunehmen, als hätte etwas versucht, Gestalt anzunehmen und diesen Versuch wieder abgebrochen, kurz bevor er wirklich zum Erfolg führen konnte, aber als sie genauer hinsah, war da natürlich nichts. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich, das war alles. Und nach allem, was hinter ihr lag, war das auch nicht weiter erstaunlich.
    Sie lachte, leise und falsch und aus keinem anderen Grund als dem, den nagenden Schrecken abzuschütteln, mit dem sie das vermeintlich Gesehene erfüllte (selbstverständlich vergebens), drehte sich noch einmal im Kreis und versuchte das Problem mit Logik anzugehen.
    Nicht, dass es ihr wirklich weiterhalf. Hier waren keine drei Wochen vergangen, daran immerhin gab es keine Zweifel, aber sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, ob es drei Stunden oder drei Tage gewesen waren. Vermutlich war es besser, wenn sie von drei Stunden ausging. Was nichts anderes bedeutete, als dass die Polizeibeamten demnächst zurückkommen und ihre Arbeit fortsetzen würden.
    Aber nicht jetzt. Frühestens bei Sonnenaufgang, schätzte sie, wahrscheinlich sogar später. Eigentlich war es fast ein bisschen erstaunlich, dass sie überhaupt so schnell gekommen waren; oder um genau zu sein: dass sie überhaupt gekommen waren . Verbrechen in den Favelas interessierten die Polizei aus dem anständigen Teil der Stadt normalerweise wenig; nicht einmal Gewaltverbrechen. Wer interessierte sich schon für einen Mord in den Armenvierteln einer Stadt, in der es an manchen Tagen mehr Mordfälle gab als in dem einen oder anderen europäischen Staat in einem

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