Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Augen mit einer Hand beschirmt, blickte zu ihr hinauf. Das Mädchen gähnte.
»Was ist?«, fragte er.
»Nichts«, sagte sie überrumpelt. »Ich … Guten Morgen, wie geht’s Ihnen?«
»Hör mal …«, begann Savi, überlegte es sich aber anders. »Na, mach schon, zieh dich an.«
Er wollte ihr sagen, dass sie nicht in aller Öffentlichkeit wie ein Seehund gähnen sollte.
Aber wozu? Es hätte sie nicht interessiert. Gutes Benehmen ist heutzutage ja ein Fremdwort.
Savi kehrte ins heimelige Halbdunkel des Tukan zurück und schloss die Tür hinter sich.
5
Eine Nacht im Tukan
Der Monte Ceneri ist gerade mal 554 Meter hoch. Für das Tessin aber ist er ein bedeutender Gebirgspass: Er teilt den Kanton in den nördlichen Teil Sopraceneri und das südliche Sottoceneri, zwei geografische Einheiten »ober-« und »unterhalb des Ceneri«, zwar nur halboffizielle Bezeichnungen, im Bewusstsein der Menschen aber sehr präsent. In Corvesco zum Beispiel, einem kleinen Dorf oberhalb des Ceneri, werden die Sommerfrischler aus Lugano bestenfalls toleriert, aber sicher nicht mit offenen Armen empfangen.
Die Rocchis waren da eine Ausnahme. Enzos Vater hatte eine Zeit lang hier gearbeitet, und im Lauf der Zeit hatten sich die Einheimischen an die Familie gewöhnt. Die Rocchis hatten ihr Haus an der Straße, die vom Tal herauf bis in den Dorfkern führt, ein modernes Gebäude mit riesigen Fenstern, Wänden aus Holz und einer granitgepflasterten Terrasse. Natürlich besaß es nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Berghütte. Linker Hand führte die Straße vorbei, rechts war ein Wald aus Buchen und Haselsträuchern.
Natalia verbrachte die Tage im Liegestuhl in der Sonne. Auf dem Dachboden hatte sie eine Kiste mit alten Krimis entdeckt, die meisten aus den siebziger Jahren, und verschlang einen nach dem anderen. Es war wie ein momentaner Stromausfall, der das Gewaber ihrer Gedanken vorübergehend stoppte. Wenn sie ins Lesen vertieft war, dachte sie nicht an ihren Vater, stellte sich weder Vergangenheit noch Zukunft vor. In diesen Krimis war selbst der Tod ein mondänes Gesellschaftsspiel.
»Natalia, darf ich kurz stören?«
Sie blickte auf. Ihre Mutter stand vor ihr und trug zu weißen Shorts ein kariertes Hemd, das Papa gehört hatte. Sie wirkte ein wenig angespannt. In der Hand hielt sie einen Stoß Papiere, und sie setzte sich ans untere Ende des Liegestuhls.
»Weißt du, ich finde, wir sollten über diese Sache mit den Mädchen reden.«
Natalia verdrehte die Augen und stöhnte.
»Ja, ich weiß, du findest das nicht, aber Papa hätte gewollt, dass …«
»Woher willst du wissen, was er gewollt hätte?«
»Hör dir an, was er auf die Rückseite eines Fotos von diesem Savi geschrieben hat. Seiner Meinung nach …«
»Ich will’s nicht wissen.«
»… handelt es sich um ein schmutziges Geschäft, Frauenhandel womöglich. Hier steht: ›Wie viele Mädchen sind eingetroffen? Wo sind die Fotos?‹ Er suchte nach Beweisen, verstehst du?«
»Lass es.«
»Natürlich interessiert er sich für den medizinischen Aspekt: ›Wie viele Untersuchungen im letzten Jahr?‹ Und hier: ›Umfang der Verletzungen (überprüfen)‹. Anscheinend ist eines der Mädchen zu ihm in die Praxis gekommen. Oder …«
»Mama, hörst du mir überhaupt zu?«
»Was? Wenn er erfahren hatte …«
»Mama!«
»Ja, entschuldige.«
Natalia starrte ihre Mutter an. »Du willst Papa auf die eine Art in Erinnerung behalten und ich auf eine andere«, sagte sie. »Verstehst du das? Ich schaff es einfach nicht, in seinen Sachen zu wühlen, nach Hinweisen zu suchen, um rauszufinden, womit er sich beschäftigt hat, seine … seine Hemden anzuziehen!«
Sonia senkte den Blick und hob ihn wieder, als sei ihr das Hemd erst jetzt zu Bewusstsein gekommen. Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung und schloss ihn wieder. Natalia hatte Recht. Sie war erst siebzehn, man konnte sie nicht wie eine Erwachsene behandeln.
»Weißt du, ich bin gern hier in den Bergen«, sagte Natalia jetzt. »Und ich denke auch oft an Papa. Warum fragst du mich nicht, ob wir spazieren gehen oder zu Pepito etwas trinken? Du willst immer nur in Papas Sachen graben …«
»Okay.«
»Wie lang soll das noch so gehen?«
Sonia stand auf. Es war nicht Natalias Schuld. Sie konnte es nicht verstehen.
»Du hast Recht. Ich kläre noch kurz was, und dann kümmere ich mich um dich.«
» Kümmern musst du dich ganz bestimmt nicht!«
»Ich meine, dann unternehmen wir was zusammen. Aber zuerst will
Weitere Kostenlose Bücher