Elixir
dann machte ich mich auf dem Weg nach oben. Ein leichter Wind kam auf und ließ mich frösteln. Mein Trägerkleid aus Seide war viel zu dünn für den Winter– sogar wenn die Kälte durch die kräftigen Wärmestrahler des Clubs gedämpft wurde–, aber zum Tanzen war es genau richtig. Und damit meinte ich nicht das klaustrophobische Albtraum-Gedränge auf der großen Tanzfläche, sondern Tanzen.
Ich zog die Balkontüren auf und fühlte mich sofort wohl. Le Féroces kleine obere Lounge war das genaue Gegenteil der wilden Arena unten und viel mehr mein Fall: klein und intim, mit dezenter Beleuchtung, Plüschsofas, Kerzenleuchtern an den Wänden, einer langen Mahagonibar, einer Tanzfläche und einer kleinen Bühne, auf der eine phänomenale Sängerin Etta James schmetterte. In dieser Atmosphäre fühlte ich mich geborgen und bahnte mir einen Weg auf die Tanzfläche bis ganz nach vorne zur Bühne, wo ich mich von der Musik davontragen ließ.
Ich tanze für mein Leben gern. Wenn die Musik stimmt, kann ich darin eintauchen und eine Zeit lang alles andere vergessen. Tanzen ist für mich, glaube ich, so wie Yoga oder Meditation für Rayna. Beim Klettern fühle ich mich ähnlich– ganz allein auf mich gestellt in einer Felswand, wo ich mich ausschließlich auf den nächsten Griff konzentrieren muss und darauf, wohin ich meinen Fuß setze. Dieser Schmerz in meinen Muskeln beim Hocharbeiten ist wie eine Sucht.
Beim Tanzen wanderten meine Gedanken hierhin und dorthin und ich überlegte, wie die Unterhaltung mit Joseph wohl weitergegangen wäre. Er hatte mir einen deutlichen Hinweis gegeben, als er mich mit meinem vollen Namen anredete. Aus Erfahrung wusste ich, dass seine nächste Frage wahrscheinlich gelautet hätte: » Wie ist es denn so, Victoria Westons Tochter zu sein?«
Es war eine blöde Frage, vor allem von jemandem wie Joseph, der ganz nebenbei seine Verbindungen zum englischen Königshaus erwähnte hatte– und die schöne Regelmäßigkeit, mit der seine Familie in der britischen Boulevardpresse auftauchte. Er wusste, wie es war, im Rampenlicht zu stehen. Aber er hätte ja auch nicht gefragt, um wirklich zu erfahren, wie sich das anfühlte, sondern nur, um das Gespräch in Gang zu halten.
Rayna dagegen fand diese Frage großartig. Auch ihr wurde sie ständig gestellt, nur dass sie in ihrer Version lautete, wie es sei, mit den Westons eng verbunden zu sein. Das war für sie die perfekte Steilvorlage. Sie blickte dann ihrem Gegenüber tief in die Augen und seufzte bedeutungsvoll: » Es sind die Leute. Ich komme dadurch mit den unglaublichsten Leuten zusammen…«
Meine Antwort klang komplett anders. Ich mache mir nichts aus dieser Art Aufmerksamkeit. Vielleicht fand ich deshalb den Hausunterricht in meinem letzten Schuljahr so angenehm. Für Rayna wäre das nichts, allein schon die Dutzenden von kleinen und großen Dramen, die sich in der Schule täglich abspielen, würden ihr abgehen. Mir allerdings nicht. Es ist nicht so, dass ich menschenscheu wäre, es gibt bestimmte Menschen, ohne die ich nicht leben könnte. Oder von denen ich zumindest glaube, nicht ohne sie leben zu können. Das letzte Jahr hat mich gelehrt, dass ich zwar ohne sie leben kann, aber nicht gut.
Rayna ist eine von ihnen. Ich kenne sie schon mein ganzes Leben lang– ihre Mutter Wanda ist die » Pferdeexpertin« meiner Mutter oder einfacher gesagt, das Kindermädchen für die Pferde meiner Mutter. Das ist ein Fulltimejob und Wanda könnte das nie schaffen, wenn sie auch noch pendeln müsste. Stattdessen wohnt sie mit Rayna und ihrem Mann George im Gästehaus auf unserem Anwesen.
Mom und Wanda waren genau gleichzeitig schwanger und Dad hatte mir erzählt, dass die zwei ihn damals fast wahnsinnig gemacht haben, weil keine der beiden auf ihn hören wollte und sich geschont hat. Im neunten Monat watschelte Wanda, dick wie eine Tonne, noch immer ohne Unterlass herum, mistete Boxen aus, schaufelte Getreide, striegelte persönlich jedes einzelne Pferd und führte es herum. Mom war damals als Politikerin auf dem internationalen Parkett unterwegs und auch wenn sie meist keine weiten Reisen unternahm, so war sie doch ständig auf Achse. Für meinen Dad grenzte es an ein Wunder, dass sie tatsächlich zu Hause war, als die Wehen einsetzten… genau fünf Minuten früher als bei Wanda. Weil George bei der Arbeit war, musste Dad beide ins Krankenhaus fahren. Sie klammerten sich auf dem Rücksitz aneinander fest– zwei dickbäuchige, stöhnende Frauen,
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