Ella und die falschen Pusteln
sagen, ich muss weiter«, sagte der Onkel und wollte das Seitenfenster schließen.
Aber der Lehrer griff blitzschnell hinein und erwischte den Onkel an der Krawatte, und als das elektrische Fenster sich langsam schloss, wurde die Krawatte nach oben gezogen und das Gesicht des Onkels gegen die Scheibe gepresst. Wir fanden, dass er jetzt noch ein bisschen ängstlicher aussah. Außerdem war sein Gesicht fast noch röter als unsere Punkte.
»Das reicht«, japste der Onkel, als er das Fenster wieder geöffnet hatte. »Ich rufe die Polizei.«
»Ausgezeichnet«, sagte der Lehrer lächelnd. »Dann können wir ja noch ein Weilchen miteinander plaudern. Wussten Sie übrigens, dass mich so ein bescheidenes Familienauto fast ein ganzes Jahresgehalt kostet?«
Der Lehrer zeigte auf sein Auto, während der Onkel sein Handy aufklappte.
»Wir Lehrer sind nicht gerade überbezahlt, wenn man bedenkt, dass die Zukunft der Nation in unseren Händen liegt, finden Sie nicht auch?«, fragte der Lehrer.
Der Onkel mit dem vornehmen Auto schrie jetzt in sein Handy.
»Sie zum Beispiel«, fuhr der Lehrer fort, »dürften für Ihre überaus wichtige Arbeit gut und gern das Zehnfache bekommen, das heißt, Sie könnten sich einen ganzen Stall voll bescheidener Familienautos leisten und ein Segelboot, eine Insel mit einem Sommerhäuschen, zwei Kanus und eine Luftmatratze noch dazu. Und jetzt nehmen wir einmal an, Sie wären mit all dem, was Sie sich von einem Jahreseinkommen leisten können, im dicksten Stadtverkehr unterwegs und hätten dazu noch sechs kranke Kinder an Bord – was würden Sie da wohl tun? Würden Sie besinnungslos über belebte Straßen und Kreuzungen preschen, oder würden Sie nicht doch lieber Sorgfalt walten lassen? Würden Sie nicht auch vorsichtig nach Gefahren Ausschau halten, statt hirnlos aufs Gaspedal zu treten? Was meinen Sie?«
Wir warteten genauso gespannt auf die Antwort des Onkels wie die vielen anderen Autofahrer, die inzwischen ausgestiegen waren und sich um unseren Lehrer versammelt hatten. Aber der Onkel sagte gar nichts mehr. Er trommelte nur mit den Fingern auf sein Lenkrad und schaute dauernd auf seine Uhr. In der Ferne waren Sirenen zu hören.
»Seht euch diese Kinder an!«, sagte der Lehrer und zeigte dabei auf uns. Er sprach jetzt nicht mehr nur mit dem vornehmen Onkel in dem vornehmen Auto, sondern mit allen Autofahrern um ihn herum. »Es sind zarte, unschuldige Pflänzchen, die noch in jedem Windhauch schwanken. Wollen wir sie wirklich schon den rauen Winden unseres Erwachsenendaseins aussetzen? Wohin sind wir eigentlich alle so eilig unterwegs? Sollten wir nicht viel öfter innehalten und prüfen, ob wir auf dem richtigen Weg sind? Das Leben eines jeden Kindes ist einzigartig. Jeder Augenblick in seinem Leben ist eine neue Wegkreuzung, und wir sind es, die darauf achten müssen, dass unsere Kinder nicht in die falsche Richtung mitgerissen werden. Darum sage ich: Haltet inne und haltet an! Staunt mit den offenen Augen eines Kindes und eilt nicht, damit ihr eure Eile nicht bereuen müsst! Seid euch eurer kostbaren Fracht bewusst! Fahrt langsam und gebt acht auf Kinder!«
Es war eine tolle Rede, das fanden alle. Der Lehrer stand im blauen Licht des Polizeiautos, das inzwischen angekommen war, und die Autofahrer klatschten wie verrückt. Einer machte sogar ein Foto von unserem Lehrer. Nur der Onkel, der gehupt hatte, saß in seinem Auto und weinte.
»Darf man fragen, was hier los ist?«, fragte einer von zwei Polizisten, die aus ihrem Auto gestiegen waren.
»Manche Erwachsene geben nicht auf Kinder acht, das ist hier los«, sagte der Lehrer.
»Das stimmt überhaupt nicht«, schluchzte der Onkel, der gehupt hatte. »Ich vermisse meine Kinder jeden Tag, von morgens bis abends.«
Da gaben ihm die Polizisten ein Taschentuch, aber erst, nachdem sie sich selbst die Tränen abgetrocknet hatten.
Es ist eine Berufskrankheit
Wir fuhren mit einer Polizei-Eskorte zum Krankenhaus. Ein Polizeiauto fuhr vor uns und eins hinter uns, und der Lehrer musste an keiner einzigen Kreuzung mehr anhalten, um nach rechts und links zu schauen. Der Lehrer sah sehr zufrieden aus. Er fand es nur schade, dass die Polizisten zum Blaulicht nicht die Sirene anstellten, obwohl er sie extra darum gebeten hatte. Als wir am Krankenhaus ausstiegen, bedankte er sich bei den Polizisten und fragte:
»Sagen Sie, könnten Sie mich heute Nachmittag auch noch zum Supermarkt eskortieren? Meine Frau besteht darauf, dass ich sie mit dem
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