Ellorans Traum
auf meine Schulter. Julian lächelte, es schien ihn nicht zu ärgern. Er setzte sich in den Lehnstuhl und blies über seinen Tee. Den überschwappenden Becher vorsichtig in der Hand balancierend, mit dem ungewohnten Gewicht des Raben auf meiner Schulter, nahm ich auf der Bank Platz.
»Ist dir der Tee süß genug?« fragte der Magier. Ich brannte inzwischen vor Ungeduld und wollte mich nicht nur über Tee unterhalten. Aber eingedenk der Ermahnungen meiner Amme, gutes Benehmen betreffend, bedankte ich mich artig. Julian heftete seine beunruhigend grünen Augen auf mich und machte keinerlei Anstalten, das Gespräch zu eröffnen. Die langen Finger um seinen Becher gelegt, trank er schweigend seinen Tee und sah mich nur an. Ich wußte nicht, was er von mir erwartete. Unbehaglich rutschte ich auf der Bank herum und bemühte mich, seinem Blick standzuhalten. Eine Sekunde, bevor ich vor Anspannung gewiß geplatzt wäre, erlöste er mich.
Er atmete tief ein, fast war es ein Seufzen, und sagte: »Deine Mutter sähe es gerne, wenn ich dich unterrichte. Entspricht das auch deinem eigenen Wunsch?«
Ich bejahte mit Begeisterung. Er mußte darüber schmunzeln. »Na gut, dann wollen wir gleich beginnen.« Ohne aufzustehen, kramte er in einer vollgestopften Truhe neben dem Tisch herum und holte Federn, einige Bögen Papier und ein Tintenfaß heraus. »Rück dir den Schemel dort an den Tisch. Du wirst wahrscheinlich ein oder zwei Bücher darauflegen müssen, damit du hoch genug sitzt. Gut so. Schau her, das ist der erste Buchstabe, den du heute lernst.«
Die Stunde in Julians Turmzimmer war im Nu herum. Nach der Lektion fragte Julian mich ein wenig aus. Ich erzählte ihm bereitwillig von meinen Beschäftigungen, dem Unterricht bei Nikal, den Freiwachen, die wir häufig miteinander verbrachten, um zu schwimmen oder zu angeln, oder wie ich an einem der vergangenen Nachmittage erstmals auf einem Pferd gesessen hatte. Julian hörte sich all das interessiert an. Irgendwann versiegte mein Redefluß, und er schickte mich mit der Anweisung nach Hause, am nächsten Tag wiederzukommen. Ich hüpfte fröhlich die Stufen hinunter, ganz anders gestimmt als bei meinem Aufstieg.
Die Neunwochen bis zum Winter waren gut ausgefüllt. Nikals Pflichten ließen nur noch selten zu, daß er mich unterrichtete. Außerdem hatte ich inzwischen das rechte Alter erreicht, um wie alle anderen Jungen der Burg täglich bei Meister Torkal, dem Waffenmeister zu üben. Seinem hitzigem Temperament hatte ich manche Kopfnuß zu verdanken, denn ich war beileibe kein Naturtalent, was den Umgang mit einem Schwert betraf. Darum gab ich mir um so mehr Mühe, mich nicht allzusehr vor den anderen zu blamieren.
Meine Fortschritte in Julians Unterricht waren sehr viel erfreulicher. Das Lesen fiel mir besonders leicht, aber auch mit dem Erlernen der Schrift ging es flott voran. Außerdem vermittelte der Magier mir allerlei Wissenswertes über meine Heimat. Er schilderte mir die Länder unter der Herrschaft der Krone: meine Heimat Raulikar-am-See; unser westliches Bruderland, das waldige Berg-Raulikar; Olyss, das Steppenland im Osten und das eisige Norrbrigge im hohen Norden. Mich reizte besonders das Herzstück der Kronstaaten: das schöne hügelige L'xhan mit unserer Hauptstadt, der Kronenburg. Meine Mutter stammte aus L'xhan, und dort lebte auch die Herrin von Kerel Nor, meine Großmutter, die eine der beiden Hände der Krone war.
Meine anfängliche Scheu vor dem Magier legte sich mit der Zeit. Ich gewann ihn recht lieb, und ich glaube, auf seine zurückhaltende Art erwiderte er meine Gefühle. Allerdings, so nahe wie Nikal stand er mir bei weitem nicht.
Die lange, düstere Winterzeit verbrachte ich, wenn ich keinen Unterricht hatte, vertieft in einen meiner geliebten Ritterschmöker, die Julian mir aus seiner offenbar unerschöpflichen Bibliothek heraussuchte. So saß ich einmal des Nachmittags frierend in Julians zugigem Turmzimmer. Das Feuer im Kamin knackte und knisterte in seinem vergeblichen Kampf mit der Eiseskälte im Raum.
Bis über die Ohren in eine Felldecke eingemummelt kauerte ich auf der Bank und versuchte, meine tropfende Nase zu vergessen und mich trotz meiner eisigen Finger, die es kaum schafften, die Seiten umzublättern, die Aufmerksamkeit auf das Buch in meinem Schoß zu richten. Julian hatte uns Tee bereitet und in jeden Becher noch zusätzlich einen kleinen heißen Kiesel fallen lassen. Ich wärmte meine Finger am Becher und atmete wohlig den
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