Ellorans Traum
aromatischen Duft ein. Der erste Schluck verbrannte mir die Zunge, und dankbar für diese Ablenkung ließ ich die ›Abenteuer des Edlen Jasper‹ zuklappen.
Der Zauberer saß in seiner gewohnten Haltung in den alten Lehnstuhl gefaltet, aus dessen rissigem Lederpolster überall die Füllung quoll. Eines von Julians langen Beinen hing über die Armlehne, und das andere hatte er unter sich gezogen. Er zwirbelte gedankenverloren an seiner Stirnlocke, während er die vor Konzentration fast schwarzen Augen auf ein schmales Büchlein in seiner Hand gerichtet hielt.
»Julian?« Er reagierte nicht. »Julian!« Der Magus blickte fragend auf. »Magst du mir nicht was erzählen? Über die Zauberer?«
Er ließ das kleine Buch sinken und runzelte die Stirn. »Was ist mit dem Edlen Jasper?«
»Er hat gerade die Prinzessin erschlagen und den Drachen geheiratet. O bitte, Julian, ich würde viel lieber eine Geschichte von dir hören!«
»Was soll ich dir denn erzählen? Wie Zauberer für ihre Ausbildung erwählt werden?«
»Ach nein, das weiß ich schon. Das hat meine Amme mir sicher tausendmal erzählt. Sie hat es ja selbst erlebt, als sie die Amme meiner Mutter und ihres Zwillingsbruders war. Eine Magierin kam kaum einen Tag nach der Geburt und wollte meine Mutter holen. Aber meine Großmutter Veelora hat es ihr verweigert. Also hat die Zauberin den jüngeren Zwilling mitgenommen, das konnte Großmutter wohl nicht ablehnen.« Ich sah Julian fragend an. »Julian, woher wußte die Magierin denn, daß meine Mutter gerade geboren war? Wie kann sie einfach so ein Kind von seiner Mutter wegholen? Warum müssen Zauberer überhaupt Kinder von anderen Leuten ...«
»Halt, halt – immer eins nach dem anderen«, unterbrach er mich. »Das sind jetzt schon mehr als genug Fragen für einen Nachmittag. Paß auf, ich beantworte dir einige davon, dann gebe ich dir ein anderes Buch, und du beschäftigst dich wieder alleine, abgemacht?«
Ich nickte begeistert. Es gab kaum ein spannenderes Thema als die Zauberer und ihre sonderbaren Gebräuche. Nachdem ich mich bequem zurechtgesetzt hatte, trank ich noch einen ordentlichen Schluck von dem inzwischen etwas abgekühlten Tee und seufzte vor Behagen. Julian legte seine Hände ineinander und blickte ernst darauf nieder, wie er es immer tat, um sich zu sammeln. Dann blickte er in mein erwartungsvolles Gesicht.
»Du weißt also, daß wir Zauberer Kinder zu uns nehmen.« Ich nickte ungeduldig. »Es ist so, daß Magier nicht dazu neigen, sich mit anderen ihrer Art zusammenzutun. Wir sind nicht allzu gesellig. Deshalb werden in der Stadt auch nur überaus selten Kinder geboren.« Er pausierte, um einen Schluck Tee zu trinken. Dann fuhr er fort: »Außerdem sind nicht alle Kinder, die Magiern geboren werden, ebenfalls magisch begabt. Wir wissen nicht, welche Ursprünge diese Fähigkeiten haben. Aber wir können sie über große Entfernung hinweg ausmachen: sogar schon, bevor ein Kind mit der Begabung überhaupt geboren ist.«
Er sah mich seltsam an und schien über etwas nachzudenken. »Wir müssen also, um nicht immer weniger zu werden, Kinder mit magischen Talenten adoptieren«, fuhr er fort. »Als eigene Kinder annehmen«, erklärte er, als er meine fragende Miene sah. »Wer Zauberer werden soll, muß so früh wie möglich mit dem Lernen anfangen.« Er hielt inne, schien mit sich zu kämpfen. »Kannst du dich an deine Geburt erinnern?«
»Ja, natürlich«, gab ich fast empört zur Antwort. Er nickte, als hätte ich etwas bestätigt, was er vermutet hatte.
»Alle Zauberer können es, sie müssen es können. Genau, wie wir auch alle über ein vollkommenes Gedächtnis verfügen. Was steht in deinem Buch auf der dreiundzwanzigsten Seite, in der vierten Zeile von oben?«
Erstaunt begann ich zu zitieren: »› ... griff der Edle Jasper zu seinem Schwert und schwang es beherzt ...‹ – he, was soll das?«
»Siehst du, du kannst es auch. Das dachte ich mir.« Er grinste boshaft. »Falls kurz vor deiner Geburt ein Magier gestorben wäre, wärst du wahrscheinlich zur Ausbildung geholt worden.« Dieser Gedanke schien ihn sehr zu belustigen, mich hingegen erschreckte er zutiefst.
»Du willst damit sagen, daß ich ein – ein Zauberer hätte sein können?«
»Es wäre möglich gewesen. Jetzt ist es wohl zu spät, darüber nachzudenken ... Würdest du gerne zaubern können?« fragte er lauernd. Ich schwieg, aufs Äußerste verwirrt. Der Gedanke war mir so fremd, als hätte er mich gefragt, ob ich
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