Elric von Melnibone
hätte, ohne gegen jede Tradition der Dracheninsel zu verstoßen. In diesem Fall ging es schlicht darum, einer Gefahr mit der besten verfügbaren Methode zu begegnen. Er war es gewöhnt, Gefühle zu unterdrücken, die mit seinen Pflichten als Herrscher im Widerstreit standen. Hätte ein Sinn darin gelegen, die vier zu befreien, die jetzt nach dem Willen von Doktor Jest tanzten, hätte er sie befreit, aber es war sinnlos, und die Gefangenen wären sehr erstaunt gewesen, hätte man sie anders behandelt als eben jetzt. Moralische Entscheidungen fällte Elric im großen und ganzen nach praktischen Gesichtspunkten - unter Berücksichtigung der Schritte, die er unternehmen konnte. In diesem Falle konnte er nichts machen. Eine solche Reaktion war ihm zur zweiten Natur geworden. Sein Bestreben ging nicht dahin, Melnibone zu reformieren, sondern sich selbst; er wollte nicht Aktionen einleiten, sondern den besten Weg finden, auf die Handlungen anderer zu reagieren. Hier war die Entscheidung einfach. Ein Spion war ein Aggressor. Gegen Aggressoren verteidigte man sich mit allen zu Gebote stehenden Methoden. Und bessere Methoden als die des Doktor Jest gab es nicht.
»Mein Lord?«
Geistesabwesend hob Elric den Kopf.
»Wir haben jetzt die Informationen, mein Lord.« Doktor Jests Dünne Stimme flüsterte durch die Höhle. Zwei Kettenpaare waren leer, und Sklaven sammelten blutige Teile vom Boden auf und warfen sie ins Feuer. Die beiden verbliebenen formlosen Klumpen erinnerten Elric an Fleischstücke, die ein Metzger sorgfältig bearbeitet hat. Einer der Brocken zitterte noch ein wenig, der andere aber rührte sich nicht mehr.
Doktor Jest ließ seine Instrumente in ein schmales Etui gleiten, das er in einem Beutel am Gürtel trug. Seine weiße Kleidung war über und über mit Flecken bedeckt.
»Offenbar hat es vor diesen schon andere Spione gegeben«, berichtete Doktor Jest seinem Herrn. »Diese hier wollten die Route lediglich bestätigen. Ob sie nun rechtzeitig zurückkehren oder nicht, die Barbaren greifen auf jeden Fall an.«
»Aber sie müssen doch wissen, was sie erwartet!« sagte Elric.
»Wahrscheinlich nicht, mein Lord. Unter den Händlern und Seeleuten aus den Jungen Königreichen ist das Gerücht ausgestreut worden, man habe im Labyrinth vier Spione entdeckt und aufgespießt - auf der Flucht erschlagen.«
»Aha«, sagte Elric stirnrunzelnd. »Dann ist es das beste, wenn wir den Angreifern eine Falle stellen.«
»Aye, mein Lord.«
»Du kennst die Route, die sie gewählt haben?«
»Aye, mein Lord.«
Elric wandte sich an einen Wächter. »Laß alle unsere Generäle und Admirale verständigen. Welche Stunde haben wir?«
»Sonnenuntergang eben vorbei, o Herr.«
»Gib Bescheid, daß sie sich zwei Stunden nach Sonnenuntergang vor dem Rubinthron versammeln sollen.«
Erschöpft stand Elric auf. »Gut gearbeitet, Doktor Jest, wie üblich.«
Der dünne Meister verbeugte sich tief, es sah aus, als bräche er in der Mitte durch. Ein dünnes und irgendwie salbungsvolles Seufzen war seine Antwort.
5
EIN KAMPF: DER KÖNIG BEWEIST SEINE FELDHERRNKÜNSTE
Yyrkoon traf als erster ein, ganz als Krieger gewandet, begleitet von zwei riesigen Leibwächtern, die die beiden prunkvollen Kriegsbanner des Prinzen trugen.
»Mein Herrscher!« Yyrkoons Stimme klang stolz und verächtlich. »Überläßt du mir das Kommando über die Krieger? Damit wärst du dieser Sorge ledig in einem Augenblick, da du deine Zeit zweifellos mit anderen Dingen ausfüllen möchtest.«
Elric erwiderte ungeduldig: »Höchst rücksichtsvoll, Prinz Yyrkoon, aber sei unbesorgt. Ich befehlige die Armee und die Flotte Melnibones, denn das ist die Aufgabe des Herrschers.«
Yyrkoon runzelte die Stirn und wich zur Seite, als Dyvim Tvar, Lord der Drachenhöhlen, den Thronsaal betrat. Er kam völlig ohne Begleitung und schien sich überstürzt angekleidet zu haben.
Er trug den Helm unter dem Arm.
»Mein Herrscher - ich bringe Nachrichten von den Drachen.«
»Vielen Dank, Dyvim Tvar, aber warte, bis alle meine Kommandeure versammelt sind, und informiere sie dann gleich mit.«
Dyvim Tvar machte eine Verbeugung und stellte sich gegenüber von Prinz Yyrkoon auf.
Nach und nach trafen die Krieger ein; schließlich warteten etwa zwanzig großgewachsene Hauptleute am Fuße der Treppe zum Rubinthron, auf dem Elric saß. Elric selbst trug noch die Kleidung, in der er am Morgen ausgeritten war. Zeit zum Umziehen hatte er nicht gehabt; bis vor wenigen Minuten hatte er
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