Emerald: Hörspiel
Wieso ist das Foto immer noch hier?«
»Katherine, weißt du noch, was ich dir im Thronsaal der Zwerge gesagt habe? Als Hamish noch König war?«
»Nein, aber …«
»Versuche, dich zu erinnern. Dann wird dir vieles klarer. In jedem Fall werde ich es dir in der Zukunft erklären. Im Augenblick musst du nur das andere Foto ins Buch legen. Warten wir ab, ob es verschwindet. Ich denke nicht.«
Er sah, dass sie zögerte. »Bitte«, sagte er, »vertraue mir.«
»Ich vertraue Ihnen«, sagte Kate. Und sie meinte es ernst.
Kate gab Michael Abrahams Foto, der es in sein Notizbuch legte, und prüfte dann noch einmal sorgfältig, ob sie und ihre Geschwister einander auch gewiss berührten. Aus dem
Augenwinkel bemerkte sie etwas in den Schatten der Baumlinie. Sie schaute genauer hin, aber was immer es war, verschmolz mit der Dunkelheit. Jetzt mach schon, ermahnte Kate sich selbst, und damit legte sie das Foto von sich auf eine leere Buchseite. Sie verspürte das mittlerweile vertraute Ziehen in der Körpermitte, die Szene vor ihnen verschwand, und dann waren alle drei wieder in ihrem Schlafzimmer. Auch diesmal blieben sie in einer Art Starre, während sie zuschauten, wie die andere Kate und die andere Emma gerade in der Vergangenheit verschwanden. Dann löste sich die unsichtbare Fessel.
»Oje«, murmelte Emma, »die haben ja keine Ahnung, was ihnen bevorsteht.«
»Ist das Foto verschwunden?«, fragte Michael.
»Nein«, sagte Kate und hielt es hoch. »Es ist immer noch da.«
In dem Augenblick öffnete sich hinter ihnen die Zimmertür.
»Die Hoheiten sind also doch anwesend!«
Die Kinder drehten sich um. Im Türrahmen stand die alte Haushälterin.
»Miss Sallow«, sagte Kate, »wir haben nicht …«
»… gehört, wie ich geklopft habe? Zehn Minuten lang habt ihr nichts gehört? Ihr glaubt wohl, ihr könnt der alten Miss Sallow auf der Nase herumtanzen? Habt euch wahrscheinlich königlich amüsiert, was? Ich wusste gar nicht, dass ich neuerdings bei der Comédie Française mitspiele!«
»Miss Sallow …«
»Dr. Pym wartet unten auf euch und wünscht das Vergnügen eurer Gesellschaft. Werdet ihr euch herablassen zu erscheinen, oder soll ich ihm ausrichten, dass die königlichen Hoheiten
lieber auf ihrem Zimmer zu bleiben geruhen und sich auf Kosten einer alten Frau einen Spaß erlauben wollen?«
Kate flüsterte Michael und Emma zu: »Geht schon vor. Ich komme gleich nach. Ich will noch das Buch verstecken.«
Sobald die beiden und die Haushälterin die Tür hinter sich geschlossen hatten, drehte sich Kate um und stopfte das Buch unter ihre Matratze. Ihre Hände zitterten. Dass die Fotos nicht verschwanden, hatte einen Grund. Aber welchen? Was hatte Dr. Pym ihr in Hamishs Thronsaal erzählt? Wenn sie sich nur konzentrieren, wenn sie nur eine einzige Sekunde einen klaren Kopf bekommen könnte! Aber sie musste an so vieles denken – an die Prophezeiung und alles, was damit zusammenhing, an die beiden anderen Chroniken vom Anbeginn , an den grässlichen Magnus (der immer noch irgendwo auf sie lauerte), an ihre Mutter…
Ihre Mutter hatte sie erkannt, hatte gewusst, wer sie war. Kate ergötzte sich immer noch an diesem Gedanken, oder besser gesagt an der Wärme, die ihr diese Erinnerung spendete, als sie die Decke glatt strich und aufstand. Und da fiel es ihr wieder ein. Dr. Pym hatte ihr erklärt, dass sie die Einzige war, die das Buch beherrschen konnte. Er meinte damit, dass ich durch die Zeit reisen kann, dachte Kate, dass ich kein Foto brauche.
Aber er hatte noch etwas gesagt. Was war das bloß?
Sie musste mit dem Zauberer sprechen.
»Katherine …«
Kate wirbelte herum. Eine uralte Frau, eine bucklige Greisin in zerlumpten Kleidern und einem zerschlissenen, schmutzigen Schal, stieg aus einem Geheimgang, der hinter einem Paneel neben dem Kamin verborgen gewesen war. Sie war hager und knochig, und die Haut – faltig und mit Geschwüren
übersät – baumelte wie ein zu großes Kleid an ihrem Leib. Fettige Haarsträhnen hingen an ihrem Schädel. Ihre schwarzen, geschwollenen Füße lugten durch die Löcher in ihren Schuhen. Sie grinste und zeigte ihre braunen, gesplitterten Zähne. Kates Augen zuckten zur Tür, aber Emma, Michael und Miss Sallow waren längst fort.
»Fünfzehn Jahre«, krächzte die Gräfin. »Fünfzehn Jahre habe ich gewartet. Für dich war es bloß eine Sache von wenigen Sekunden. Du bist über die Zeit gestiegen wie über eine Pfütze auf dem Boden. Aber ich habe gewartet, mon ange ,
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