Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
größtes Lob zu. Allerdings urteilten sie aus verschiedenen Blickrichtungen: Einige legten die Maßstäbe an, die man von der griechischen Tragödie kannte, lobten den strengen Aufbau, fragten aber, inwiefern der Schluss tragisch sei. Andere verglichen
Emilia Galotti
mit dem rührseligen Trauerspiel
Miss Sara Sampson
und stellten fest, dass das neue Stück sehr viel kühler wirke und kaum Tränen des Mitleids hervorlocke. Eine dritte Gruppe feierte den Autor als den deutschen Shakespeare, der sich nicht unbedingt an vorgegebene Regeln halte und doch alles richtig mache.
Fast zeitgleich mit der ersten Inszenierung wurde das Werk gedruckt. Insgesamt erschienen im Jahr 1772 vier Druckausgaben, so dass die Verbreitung bei der literarisch interessierten Öffentlichkeit gesichert war. Ein spektakuläres Zeugnis für den Bekanntheitsgrad des Trauerspiels ist die Tatsache, dass Goethe in seinem 1774 erschienenen Briefroman
Die Leiden des jungen Werthers
Lessings Trauerspiel erwähnt. Über Werther, der Selbstmord verübt hat, wird vom Herausgeber berichtet: »Von dem Weine hatte er nur noch ein Glas getrunken. Emilia Galotti lag auf dem Pult aufgeschlagen.« Werther – so soll der Leser folgern – hat sich den Mut zu sterben bei Emilia Galotti geholt: »Der berühmteste deutsche Roman des 18. Jahrhunderts zitiert das bis dahin berühmteste Drama herbei.« 36
In dem gleichen Maße, in dem von jungen Dramatikern Shakespeare als Vorbild erhöht und die französischen klassizistischen Dramatiker wie Corneille und Racine abgewertet wurden, wechselte die Vorbildfunktion Lessings: Die vollendete, den meisten Regeln folgende Formgebung wurde kritisch betrachtet, während man die Charakterisierung der Personen und die erstrebte Wirkung als beispielgebend ansah. Einige Gestalten Lessings wurden Vorbild für Personen der »Sturm-und-Drang-Dramatik«: »Odoardo gab das Beispiel für Wagners und Schillers würdige Väter, Conti beeinflusste die Maler- und Künstlerfiguren, die Orsina Gestalten wie Lady Milford (in Schillers
Kabale und Liebe
) und Adelheid (in Goethes
Götz von Berlichingen
), Emilia in starkem Maße Schillers Luise (in
Kabale und Liebe
); in Posa (aus Schillers
Don Carlos
) lebt etwas von Appianis Haltung, Klingers Höflinge und Schillers Wurm (
Kabale und Liebe
) sind Marinelli verwandt. Zugleich wurden ähnliche realistische Konflikt- und Figurenkonstellationen angeregt und in Ferdinands letzten Worten in
Kabale und Liebe
(V,8) lebt die letzte Szene der
Emilia Galotti
wieder auf.« 37
Friedrich Schillers Drama
Kabale und Liebe
(Erstaufführung 13. 4. 1784), das in mancherlei Hinsicht
Emilia Galotti
verpflichtet ist, gilt heute als Höhepunkt in der Geschichte des bürgerlichen Trauerspiels. Den Schlusspunkt setzt – nach heutiger Einschätzung – Friedrich Hebbel mit
Maria Magdalena
(1844). Eine literaturhistorische Abhandlung über diese Konzeption dramatischer Dichtung beginnt 1972: »Das bürgerliche Trauerspiel ist heute eine tote Gattung; schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ist es ausgestorben. Seit etwa zwanzig Jahren steht es im Brennpunkt des literaturwissenschaftlichen Interesses.« 38 Damit scheint die ganze Gattung ins Museum verwiesen und der Öffentlichkeit entzogen. Doch fast zur gleichen Zeit, als diese Überlegungen formuliert wurden, inszenierte Fritz Kortner eine ganze Serie von bürgerlichen Trauerspielen: Schillers
Kabale und Liebe
(München 1965), Hebbels
Maria Magdalena
(Berlin 1966), Lessings
Emilia Galotti
(Wien 1970).
Über die Wiener Inszenierung schreibt die Theaterkritikerin Hilde Spiel: »Was bleibt übrig, wenn […] der Text […] des allzu Zeitgebundenen entledigt wurde? Zwei entscheidende Elemente: die Chemie menschlicher Beziehungen und der gesellschaftliche Gärungsprozess […]: den sich vorbereitenden Aufstand des Bürgers gegen Fürstenwillkür zu illustrieren, wie Lessing ihn, fünfzehn Jahre vor der Französischen Revolution, elf Jahre vor Schillers
Kabale und Liebe
, als eigentliches Demonstrationsobjekt seines Trauerspiels sah.« 39
Seit sich Bildungstheoretiker von der Lektüre deutscher Klassiker eine allgemein bildende Wirkung versprachen, wurden auch die Werke Lessings ins Gespräch gebracht: »In Bayern war schon 1808 […] ein detaillierter Leseplan für alle Gymnasialklassen in Kraft gesetzt worden, der sich auf Lessing, Klopstock, Goethe und Schiller konzentrierte.« 40 Im Lektürekanon des gymnasialen Deutschunterrichts konnte sich Lessing bis ins 20.
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