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Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel

Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel

Titel: Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G.E. Lessing
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Kirche (II,6). Gegen die guten Sitten wäre es gewesen, hätte sie versucht, sich »von ihm loszuwinden« (II,6). So hat sie auf einen geeigneten Augenblick zur Flucht gewartet; der Prinz konnte sie nicht halten. Rückblickend gesteht er: »Stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie da; wie eine Verbrecherin, die ihr Todesurteil höret« (III,3). Als der Prinz Emilia nach dem Überfall auf dem Lustschloss gegenübertritt und diese die Lage noch nicht ganz durchschaut, fragt sie sich für einen Augenblick – »Die Hände ringend« –: »Was soll ich tun!« (III,5). Im nächsten Augenblick wirft sie sich vor dem Prinzen nieder: »Zu Ihren Füßen, gnädiger Herr –« (III,5). Damit ergibt sie sich nicht den Wünschen und dem Begehren des Mannes Hettore Gonzaga, sondern sie fleht unter »Beben« (III,5) den Fürsten um Gnade an. Sie erkennt, dass sie ausgeliefert ist, und sie ist verzweifelt. Wenn es wenig später heißt: »Er führt sie, nicht ohne Sträuben, ab« (III,5), so wird deutlich das Bild einer Täter-Opfer-Beziehung wachgerufen.
    Die Frage, ob Emilia etwas »Strafbares« (II,6) begangen hat, müsste sogar von Odoardo, dem rigorosen Vater, verneint werden. Sie ist, wie Claudia Odoardo gegenüber vehement vertritt, »unschuldig, in allem unschuldig!« (IV,8). Dass sie die Gefahren, die im Haus der Lasterhaften drohen, bemerkt hat, ist nicht Schuld. Dass der Prinz für sie schwärmt und Verbrechen in Kauf nimmt, sie zu besitzen, ist nicht ihre Schuld. Dass sie schließlich ihre »Sinne« und ihr »so jugendliches, so warmes Blut« (V,7) spürt, ist natürlich und nicht schuldhaft. Der Anlass dafür gewesen zu sein, dass zwei Menschen umkamen und andere ins Unglück gestürzt wurden, belastet sie verständlicherweise; doch kann ihr auch das nicht als Schuld angerechnet werden. Mit allen Kräften wehrt sich Emilia, so darf man folgern, und erklärt später ihrem Vater gegenüber: »Als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater« (V,7). Für einen Augenblick fühlt sie sich sogar stark genug, mit dem Dolch gegen ihre Widersacher vorzugehen.
    In einem überraschenden Wechsel äußert sie plötzlich mehr Angst davor zu haben, die »Unschuld« zu verlieren als das Leben, fürchtet sie plötzlich eine »Verführung«, die nicht von Seiten des Prinzen droht, sondern aus ihrem eigenen »Blut« (V,7). Plötzlich erinnert sie sich an den »Tumult in meiner Seele«, den sie im »Haus der Freude«, im »Haus Grimaldi« erlebte und »den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten« (V,7). Es ist die Frage, ob in diesem kritischen Augenblick ein lange zurückgedrängtes Schuldbewusstsein nach außen drängt oder ob ein übersensibles Gewissen Schreckbilder sieht, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Für jemanden, für den »sündigen wollen« schon »sündigen« (II,6) ist, für den mag die Furcht, einer Verführung nicht gewachsen zu sein, schon »Verführung« (V,7) sein. Kaum jemand – außer der Betroffenen – dürfte darin eine Schuld sehen.
    Das Ende ist traurig, nicht tragisch. Es gibt keine weltliche Instanz, die die wahren Schuldigen am Tod des Grafen und am Tod Emilias zur Rechenschaft ziehen wird. Ein derartiges Gericht ist in der gegebenen Staatsform nicht vorgesehen. Zur tatkräftigen Rache fehlen die äußeren Mittel, aber auch die innere Einstellung. Die Gräfin Orsina hat zwar alles zur Rache vorbereitet, ist jedoch selbst zu schwach und findet keinen Helfershelfer. Religion und Tugendideale halten Odoardo davon ab, Gewalt gegen den Fürsten zu üben. So bleibt allein die Hoffnung auf den »Richter unser aller« (V,8). Dass dies tröstlich für jemanden ist, der sich zunächst »in das Gefängnis« (V,7) liefert, weil er vor dem weltlichen Gericht als der Mörder seiner Tochter gilt, mutet aus heutiger Sicht befremdlich an. Odoardo hat kurz zuvor ein vergleichbares Glaubensbekenntnis von seiner Tochter gehört: Um »Verführung […] zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige« (V,7). Gegen die absolute Tyrannei des Fürsten wird der absolute Glaube an einen gerechten Richter am Ende der Tage gesetzt.
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