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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
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finden.«
    Das wusste ich natürlich alles, ohne dass man es mir sagen musste. Hätte mir das Verlangen nach Marla nicht die Sinne vernebelt, wäre mir klar gewesen, dass es so kommen musste. Lass ein Kind niemals unbeaufsichtigt am Wasser – eine eherne Grundregel. Ich hätte bei ihm sein müssen. Aber es war mir wichtiger gewesen, bei Marla zu sein.
    Während ich Stans Herz massierte, marterte mich die glasklare Gewissheit meiner Schuld, die Gewissheit, dass ich allein die Verantwortung für diesen leblosen Körper trug, und sie nahm mir einen Teil meiner selbst, den Teil, den die meisten Menschen als Fundament ihrer Identität ansehen – die Überzeugung, dass man selbst ein guter Mensch ist.
    Nach jenem Tag sollte ich genau das nie wieder von mir denken.
     
    Als Stan würgend und keuchend wieder zu sich kam, als er die zitternden Lider aufschlug und an mir vorbei in den blauen Himmel sah, dachte ich, ich würde vor Erleichterung selbst ohnmächtig werden. Er sog in gewaltigen, schluchzenden Zügen Luft ein, während ich ihn fest an mich drückte und der Menge zurief: »Er lebt! Er lebt!« Und als sie klatschten und jubelten, schwor ich mir, dass ich meine Lektion gelernt hätte, dass ich mich nie wieder einem anderen menschlichen Wesen gegenüber gleichgültig verhalten würde. In diesem Augenblick der Freude hatte ich keine Ahnung, dass meine Lektionen gerade erst anfingen.
    Als die Notärzte eintrafen, hielt ich Stan immer noch in den Armen. Jemand aus der Menge hatte sie über Handy gerufen, und sie waren holpernd den Weg zum See heraufgekommen. Sie waren zu zweit, nahmen mir Stan weg, schnallten ihn auf eine Trage und trugen ihn den Strand entlang zu ihrem Wagen. Ich stapfte neben ihnen her und versicherte Stan immer wieder, dass alles gut werden würde. Er hatte sich umgesehen, als würde ihn jeder Anblick mit ungeheurer Verzückung erfüllen. Doch als sein Blick auf mich fiel, da sah er mich einen Moment verständnislos an, und ich spürte neuerliche Angst, die mich mit ihrem Würgegriff packte.
    »Ich bin es. Johnny. Alles klar, Stan? Ich bin es. Johnny.«
    Er lächelte und schloss die Augen. »Johnny …«
    Dann sank sein Kopf zur Seite, und wir stiegen in den Krankenwagen ein.
    Bevor sie die Tür zuschlugen, sah ich Marla. Sie musste uns gefolgt sein, aber ich hatte sie nicht bemerkt, nicht einmal an sie gedacht. Sie blieb reglos stehen und sah mich an, und als unsere Blicke sich begegneten, wussten wir beide, was wir an diesem Tag im Wald angefangen hatten, würde für sehr lange Zeit unser Geheimnis bleiben.
    Die Notärzte fuhren Stan fünfzig Meilen ins Krankenhaus von Burton und befolgten dabei über Funk die Anweisungen der Unfallklinik von Oakridge. Ich erinnere mich an die Zeit wie an einen Albtraum, in dem sich die Vorwürfe meines Vaters abwechseln mit meiner panischen Sorge um Stan. Ich glaube, mein Vater gab sich große Mühe, seinen Zorn zu zügeln, aber manchmal wurde es einfach zu viel für ihn.
    In dem tosenden Sturm von Ärzten und Untersuchungen und Wartezimmern und Unwissenheit drang immer öfter ein Wort an die Oberfläche, ein garstiges Stück Treibgut, das unser Leben fortan für immer belastete und mir selbst jede Hoffnung nahm, ich könnte mir je verzeihen, dass Stan um ein Haar ertrunken wäre.
    Hypoxie. Ein Gehirn, das länger als drei Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt wird, stirbt nach und nach ab. Auch das weiß man, genau wie:
Lass ein Kind niemals unbeaufsichtigt am Wasser.
Doch welche Teile absterben, welche Stellen das Gehirn opfert und was für Folgen das hat, erkennt man immer erst hinterher. Ebenso, wie das Maß der Rekonvaleszenz unvorhersehbar ist.
    Ein Arzt, der uns ein wenig Hoffnung machen wollte, sagte: »Es gibt keine gesicherten Prognosen bei einem Gehirntrauma. Ich meine, wie das Gehirn darauf reagiert.«
    Er wollte nur helfen, doch seine Worte fielen auf taube Ohren. Wir sahen selbst, wie heftig Stans Gehirn auf das Trauma reagiert hatte.
    Die folgenden Wochen und Monate waren eine Übergangsphase. Reha und Therapie brachten eine rasche Verbesserung der motorischen Fähigkeiten – ein abwärts geneigter Graph in den Achsen des Koordinatensystems aus Zeit und Schaden. Nach drei Monaten hatte Stan einen Zustand erreicht, in dem keine Besserung mehr zu erwarten war.
    Die Ärzte sagten, es hätte wesentlich schlimmer kommen können. Und erwähnten höflicherweise nicht, dass es auch viel besser sein könnte.
    Stans Zustand war nicht extrem. Er endete nicht

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