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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
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während das Rascheln unserer Schritte noch nachklang. Keuchend, lächelnd standen wir einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Licht und Schatten. Ein Herzschlag der Stille. Da draußen, in der Welt der planschenden Kinder und der Familien mit ihren Picknicks, mochte es Gründe geben, zu zögern und gut zu bedenken, was wir hier machten, doch hier, in dieser bewaldeten Zuflucht, gab es nur uns, uns und unser Verlangen. Ich spürte die Sonne sengend in meinen Körperzellen, meinen Augen, selbst in den Haarspitzen.
    Das Gras, auf dem wir lagen, schmiegte sich an unsere Körper. Es knickte und brach unter uns, wenn wir uns bewegten, und hinterließ blassgrüne Spuren auf Knien und Ellbogen und Schultern. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, durften sie nicht mit den zaghaften Zärtlichkeiten vergeuden. Wir wollten alles auf einmal haben in diesen wenigen Minuten, die uns vergönnt waren. Hinterher, als wir nebeneinander lagen, rochen wir den Duft der Grashalme, die wir umgemäht hatten.
    Wer weiß, welche Pläne wir vielleicht noch geschmiedet hätten? Womöglich hätten wir beschlossen, unser Leben für immer gemeinsam zu verbringen. Womöglich hätten uns Bedenken gequält wegen Gareth. Doch so weit kam es nicht, jedenfalls nicht an diesem Tag. Lärm vom See drang zu uns herüber, gedämpft von den Bäumen, doch unmissverständlich – die verspielten Tonarten von Gelächter, das kurze Plärren eines quengelnden Kindes, der Ruf einer Mutter, zwei oder drei Töne, immer wieder, als würde ein Instrument gestimmt werden …
    Diese Geräusche hatten wir nicht gehört, während wir miteinander beschäftigt waren. Doch jetzt, als unsere Körper zur Ruhe kamen, drangen sie wieder zu uns. Und jetzt klangen sie verändert: Aus einem unverbindlichen Geplapper war ein wildes Schreien geworden, das den warmen Kokon durchbohrte, den Marla und ich um uns gewoben hatten. Einen Moment blieb ich liegen und versuchte, den Sinn zu entschlüsseln. Und dann zog ich die Badehose an und rannte, rannte, rannte …
    Denn die Schreie, die ich hörte, drückten Panik, Schrecken und Gefahr aus. Und ich kannte ihre Ursache.
    Hinaus aus dem Wald. In die Sonne. Unsere Handtücher und Taschen lagen noch am Ufer. Stans Buch ebenfalls. Doch so sehr ich mir das Bild herbeiwünschte, so sehr ich schrie, es möge so sein – er selbst war nicht da. Wenige Meter weiter drängten sich eine Gruppe Menschen um etwas.
    Ich rannte zu ihnen, rempelte Leute aus dem Weg und blieb ruckartig stehen. Ein Mann kniete am Boden und bewegte die Arme hektisch auf und ab. Jeans und Hemd, die er trug, waren tropfnass, und unter seinen pumpenden Händen lag mein Bruder, schrecklich blass und schrecklich still. Seine Brust spannte sich, ein Fuß zuckte in kurzem Bogen hin und her, aber für mich bestand kein Zweifel, dass er nicht mehr lebte. Ich ließ mich dem Mann gegenüber auf die Knie nieder. Plötzlich verspürte ich den verzweifelten Wunsch, zu erklären, dass dieser Vorfall für mich am schlimmsten war, den Gesichtern, die sich ringförmig um mich scharten, meine Schuld an dieser Tragödie zu gestehen.
    »Er ist mein Bruder.« Mehr brachte ich nicht über die Lippen.
    Der Mann ergriff meine Hände, presste sie auf die Stellen, wo seine gewesen waren, drückte mir die Ellbogen durch und zeigte mir, wie es ging.
    »Wenn ich nicht mehr puste, drückst du.«
    Mehrere Sekunden verbarg sein Hinterkopf Stans Gesicht. Ich spürte, wie sich die schmale Brust hob und senkte, aber ohne eigenes Zutun; Stan atmete weder ein noch aus. Auch seine Haut fühlte sich unter meinen Händen starr an, als hätten sich Muskeln und Gewebe irgendwie verdichtet.
    Ich stöhnte. Ich hörte, wie ich stöhnte, konnte es aber nicht vermeiden.
    »Drücken! Drücken!«
    Ich hämmerte auf Stans Brust.
    Die Leute der Menge berichteten bruchstückhaft, was sie gesehen hatten.
    »Er ist allein rausgeschwommen. Ich habe ihn reingehen sehen, er sah okay aus.«
    »Wir dachten, dass er spielt. Uns war nicht klar, dass er in Not ist.«
    »Jared hat gesehen, wie er untergegangen ist.«
    »Ja, er war ein gutes Stück draußen, aber ich hab gesehen, dass etwas nicht stimmt.«
    Der Mann, der neben mir kniete, berührte mich an der Schulter, und ich hörte auf, während er wieder Atemluft in Stan hineinpustete. Als ich wieder anfing, berichtete er abgehackt zwischen keuchenden Atemzügen.
    »Er war ziemlich lange unten. Meine Kinder haben gesehen, wie es passiert ist, aber ich konnte ihn nicht

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