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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
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und umklammerte dabei fest einen Schlüsselbund, den ich in der Tasche trug. Diese Schlüssel hatten mich während meiner ganzen Zeit in London begleitet – zwei für das Haus meines Vaters, einer für den Holzbungalow, dem ich mich gerade näherte.
    Die Fassade des Hauses hatte sich nicht verändert. Als Marla und ich es gefunden hatten, waren die Fensterrahmen und die Eingangstür mit ihrem Ornamentglas weiß gewesen, doch an unserem zweiten Tag dort strichen wir sie rot, um allen zu zeigen, wie sehr wir uns darüber freuten, dass wir endlich einen gemeinsamen Haushalt hatten. Ich war einundzwanzig, Marla hatte meinetwegen gerade Gareth verlassen. Minus ein Freund, plus eine Freundin.
    Ich war nicht sicher, ob sie noch dort wohnte. Ich hatte ihr geschrieben, nachdem ich Oakridge verlassen hatte, und sie hatte eine Weile zurückgeschrieben, doch ihre Briefe waren voller Vorwürfe und voller Traurigkeit. Nach einem Jahr antwortete sie mir nicht mehr. Seither erfuhr ich Neues über sie nur aus den seltenen Briefen oder E-Mails, die mein Vater und ich wechselten. Selbst der Brief, in dem ich ihr mitteilte, dass ich nach Oakridge zurückkehren würde, blieb unbeantwortet. Aber irgendwie schien es mir unmöglich, dass ich nichts davon erfahren hätte, wenn sie umgezogen wäre. Beruhigend wirkte, dass Fensterrahmen und Tür immer noch rot gestrichen waren.
    Ich ging langsam an der Seite des Hauses entlang, blickte durch das Fenster unseres ehemaligen Schlafzimmers und sah sofort, dass ich recht gehabt hatte – Marla wohnte noch hier. Das Zimmer war noch immer das Schlafzimmer, sogar unser Bett und die Kommode standen noch darin. Und auf der Kommode die gerahmte Fotografie von Marla und mir auf einem Picknickplatz am Swallow River.
    Ich ging zur Vorderseite des Hauses zurück. Ich klopfte an die Tür, wartete sehr lange und klopfte erneut, aber es machte niemand auf. Ich sah mich um. Von keinem anderen Haus in der Straße konnte man in Marlas Vorgarten sehen. Und so nahm ich den Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schloss, drehte ihn herum und öffnete die Tür. Ich blieb eine geschlagene Minute auf der Schwelle stehen und horchte, dann trat ich ein und schloss die Tür leise hinter mir.
    Die Erinnerungen erwischten mich mit der Wucht eines Lastwagens – der polierte Holzboden im Flur, die beiden Schlafzimmer links, das Wohnzimmer rechts, Küche und Bad hinten. Selbst im Geruch des Hauses schwangen noch Anklänge an meine Zeit dort mit – heißes Holz, durch Glas erwärmte Luft. Dieses Haus und die Beziehung, die ich damit verband, gehörten zu den größten Verlusten meiner Flucht aus Oakridge.
    Die Vergangenheit stürmte aus jedem Zimmer auf mich ein – von Regalen, die ich zusammengebaut und an einer Wand befestigt hatte, von Haken, die ich an die Rückseiten von Türen geschraubt hatte, von Scharnieren, die ich provisorisch mit einem Nagel repariert hatte … Aber das Haus war kein Mausoleum für unsere gemeinsame Zeit. Mein Geist war hier, aber unter acht Jahren meines eigenen Lebens begraben und nur an manchen Stellen sichtbar, als hätte die Zeit, als sie die Schichten der Gegenwart auftrug, hier und da ein Fleckchen vergessen.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie ihr Leben ausgesehen haben könnte, seit ich fort war. Offenkundig war sie nicht reich oder auch nur einigermaßen wohlhabend geworden – ich sah keine Anhäufung neuer Sachen. Hatte sie einen anderen Mann gefunden? Ich suchte nach Hinweisen, fand jedoch zu meiner Erleichterung keine. Eine Veränderung allerdings gab es, die ich nicht zu entschlüsseln vermochte.
    Wir hatten das zweite Schlafzimmer stets als Abstellkammer benutzt und kaum je betreten. Jetzt befand sich kein Haushaltsplunder mehr darin, sondern ein Doppelbett mit dunkelblauen Laken und einer Steppdecke. Zuerst dachte ich, Marla müsste eine Untermieterin aufgenommen haben, aber in dem Raum deutete zu wenig auf eine regelmäßige Bewohnerin hin. Neben dem Bett sah ich lediglich eine kleine Kommode und einen Spiegel. Dennoch spürte ich eine Aura des Bewohnten, eine sensorische Duftmarke, die mir verriet, dass das Bett hin und wieder benutzt, dass in den Spiegel manchmal hineingeblickt wurde.
    Ich schlug die Bettdecke zurück. Sie war länger nicht gewaschen worden, der Geruch von Sex stieg daraus empor. Staubige Spuren angetrockneten Samens hoben sich von dem dunklen Stoff ab. Ich öffnete die Schubladen der Kommode. In der obersten lag Damenunterwäsche aus schwarzer Spitze

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