Endlich wieder leben
empfunden, ich fühlte mich bloßgestellt. Ich hatte tatsächlich Angst: vor Mäusen, Fröschen, Hunden, Würmern und Gewitter, vor allem vor fremden Leuten. Ich ging nicht allein vor die Tür, wollte nicht in den Kindergarten, kannte jahrelang kein einziges Kind außer meiner Schwester. Ich war aber nicht nur extrem schüchtern, ich schwankte zwischen Ängstlichkeit, Aufsässigkeit und Rebellion, ich war ziemlich eigensinnig, mit mir konnte man nichts machen, was ich nicht selber wollte. Ich war nicht das, was man »ein nettes Mädchen« nennt. Viele Leute fanden mich unmöglich – und ich mich selbst oft genug auch.
Nach dem Tod meines Vaters mussten wir das Pfarrhaus in Neuwedell räumen. 1943 zogen wir in ein westfälisches Dorf, wo die Familie des Bruders meiner Mutter wohnte. Die bedrückte Stimmung hielt unverändert an. Meine Schwester und ich blieben mit unserem Vater beschäftigt, auch wenn wir seine Ankunft nicht mehr vorbereiten konnten. Er war der gute Mensch schlechthin, der überall und immer fehlte. Er sah vom Himmel auf uns herab und begleitete uns Tag und Nacht. Ich malte Bilder, die ihn beim Keksebacken zusammen mit den Engeln zeigen. Zu Weihnachten und an seinem Todestag machten wir meiner Mutter Geschenke mit gepressten Blumen, mit reich bebilderten, selbst gemachten Gedichten und selbst erfundenen Geschichten. Und sie schlug über ihrem Bett einen Nagel in die Wand, an den sie die Soldatenmütze ihres Mannes hängte.
Ich litt vor allem unter der Bedrücktheit meiner Mutter. Weil wir im Zuge der Wohnraumbewirtschaftung als »Einquartierte« oder »Evakuierte« in das Dorf kamen, hatte sie ständig das Gefühl, wir würden anderen Leuten Raum wegnehmen, wir könnten stören oder auffallen. Wir benahmen uns so still und unauffällig wie möglich, so, als wären wir gar nicht da.
In diesem Dorf lebten wir die letzten Kriegsmonate. Wir hörten und sahen die Bombengeschwader am Himmel, auf dem Schulweg rasten Tiefflieger über unsere Köpfe, und alle Schulkinder hatten die Weisung, sich sofort in den Straßengraben zu werfen. Oft saßen wir nachts in der Küche hinter zugeklebten Fenstern bei einer schwarz verhängten Lampe, hörten das tiefe Brummen der Flugzeuge und warteten auf die Entwarnung vom Bombenalarm. Von unserem Keller aus konnten wir sehen, wie die Nachbarstadt brannte und die Kirchtürme unter den Bombenangriffen zusammensanken.
Meine Schwester war meine wichtigste Bezugsperson. Sie hat sich immer mit großer Selbstverständlichkeit um mich gekümmert, hat mich während der nächtlichen Fliegerangriffe in Decken eingewickelt und mir vorgesungen: »Breit aus die Flügel beide … dies Kind soll unverletzet sein.« Ich glaube, sie hat das als ihre Aufgabe angesehen und war irgendwie auch stolz darauf. Im Übrigen waren wir der Meinung: Wir haben keinen Grund zum Klagen, uns geht es verhältnismäßig gut, wir haben überlebt.
1945, nach Kriegsende und dem Tod meines Großvaters, zogen wir in die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in die Nähe von Bielefeld. Eigentlich durften in der Anstalt nur Leute wohnen, die professionell mit der Betreuung der Patienten betraut waren. Aber weil meine Großeltern dort als Diakone gearbeitet hatten, durften wir mit in die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung unserer verwitweten Großmutter einziehen – allerdings unter strengen Auflagen: Meine Großmutter verbot uns, irgendetwas in ihrer Wohnung zu verändern. Sie behielt das einstige Elternschlafzimmer, meine Mutter schlief im Wohnzimmer auf der Couch, meine Schwester in einem angebauten Stall mit Blechwänden und ich – am komfortabelsten – im ehemaligen
kleinen Esszimmer meiner Großeltern, in dem ich nun zehn Jahre lang kein einziges Möbelstück umstellen, keinen Stuhl, keine Blumenvase verrücken, kein Bild abnehmen, kein Buch oder Spielzeug liegenlassen durfte.
Wir lebten äußerst eingeschränkt. Vor allem hatten wir kein Geld. Es gab noch keine Regelungen für die Pfarrerswitwen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Von Februar 1945 an waren sämtliche Zahlungen der Konsistorialkasse der Evangelischen Kirche an uns eingestellt. Meine Mutter ging hamstern in umliegende Dörfer, und oft kam sie nach stundenlangen Fahrradtouren mit einem Ei oder 20 Gramm Mehl zurück. 1950 erhielten wir eine Nachzahlung von 52 Mark, erst von 1951 an erhielten meine Mutter eine Rente von 40 Mark, meine Schwester und ich eine Halbwaisenrente von je 10 Mark. Davon zu leben war unmöglich.
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