Endlich wieder leben
fehlende Geld belastete mich allerdings das Leben in der Anstalt. Bethel war 1867 von der Inneren Mission für epilepsiekranke Menschen gegründet worden und hatte sich mittlerweile zum größten diakonischen Unternehmen in Europa für neurologische und psychiatrische Erkrankungen entwickelt. In der NS-Zeit hatte die Anstaltsleitung die ihr anvertrauten Menschen vor der Euthanasie retten können – mit Ausnahme von sieben jüdischen Patienten, die angeblich in ein anderes Heim verlegt, in Wirklichkeit in eine der Tötungsanstalten abtransportiert worden waren. Nach dem Krieg nahm Bethel auch schwer kriegsverwundete Soldaten und manche Heimatlose verschiedenster politischer Couleur auf, obwohl über tausend Pflegeplätze durch Bombenangriffe zerstört waren.
Bethel war ein sonderbarer Ort. Man darf ihn sich nicht vorstellen als einen geschlossenen Krankenhausbetrieb, sondern als eine kleine Stadt, deren Mehrheitsbevölkerung aus Außenseitern, Verrückten im wörtlichen Sinne bestand – Menschen, bei denen die Grenzen zwischen Normalem und Abweichendem, zwischen Krankheit und Gesundheit ver-rückt waren. Sie sollten hier ohne Diskriminierung leben können und waren – im Unterschied zu heute – überall präsent. Sie mussten praktisch ohne Medikamente
und Behandlung auskommen, als einzige Therapie galt das Christentum. Auf mich wirkten die Menschen hier noch düsterer als alle anderen, die mir zuvor begegnet waren. Auf den Straßen, den Waldwegen, in der Post, in der Kirche, auf den Friedhöfen, in den Handwerksbetrieben – überall schwerkranke Menschen, Schizophrene, Depressive, Demente, vor allem Epileptiker mit ihren Ledersturzhelmen, ihrem schleppenden Gang und den vom Brom aufgedunsenen Gesichtern. Auf dem Weg zur Schule begegnete mir regelmäßig ein Mann in elegantem Anzug, der mit einem Bollerwagen Post für die nervenkranken Männer abholte. Oft fing er plötzlich laut zu singen an, lief wild gestikulierend mit kleinen Trippelschritten hin und her über die Straße, warf seinen Hut in die Luft, schnitt Grimassen und setzte dann seinen Weg fort, als sei nichts geschehen. Ich hatte Angst vor solchen Unberechenbarkeiten, war erschrocken und verwirrt.
Epileptische Anfälle und Absencen gehörten zum Alltag. Einmal lag ein Mann tot neben unserer Haustür, er war an einem Anfall erstickt. Ein anderes Mal, als ich in einer Schlange vor dem Postschalter wartete, fiel plötzlich ein schwerer Mann neben mir zu Boden mit schrecklichen Schreien und Krämpfen. In der Kirche, wo ich später regelmäßig Orgel spielte, häuften sich die Anfälle besonders an Feiertagen wie Weihnachten und Ostern. Die Patienten wurden dann aus der Kirchenbank in einen kleinen Vorraum getragen, wo man sie laut stöhnen hörte.
Wenn ich abends zum Üben in die Kirche ging, brauchte ich Mut. Der Strom war aus Ersparnisgründen immer abgestellt, also musste ich mich erst durch das schwarze Kirchenschiff tasten, um im Elektrokasten neben dem Altar den Hauptschalter umzulegen. Auf diesem Weg durch die stockdunkle Kirche fürchtete ich immer, dass vielleicht ein Epileptiker zwischen den Kirchenbänken liegen oder ich gegen einen Sarg stoßen könnte, denn die Särge wurden schon einen Tag vor der Beerdigung im Altarraum aufgebahrt.
Besonders bedrückend waren die Kriegsversehrten, meist junge Männer. Viele hatten schwerste Gesichtsverbrennungen, anstelle des
Mundes oder der Augen nur Löcher. Sie zogen ihre Hüte tief ins Gesicht, um ihre Entstellungen zu verbergen. Andere waren beinamputiert und bewegten sich mit Holzkrücken vorwärts, die bis unter die Achseln reichten. Manche hatten gar keine Beine mehr; sie saßen, weil es keine Rollstühle gab, auf zusammengezimmerten Brettern, unter denen Rollen angebracht waren, und stießen sich mit den Händen vom Boden ab.
Bethel wurde für mich eine Schule, in der ich etwas über die Würde des zerstörten und ver-rückten Lebens lernte und in der keine Hierarchien zwischen Kranken und Gesunden zugelassen waren. All die Krankheiten und Verletzungen gehörten zum Ort dazu, sie waren alltäglich und nicht sensationell. Aber gleichzeitig blieb diese Welt erschreckend und voller Bedrückungen. Für ein Kind war die Konfrontation mit der Nicht-Normalität ein großer Schock, und ich habe immer Angst gehabt.
Ich blieb möglichst zu Hause, zog mich stundenlang zurück auf den Drehstuhl vor dem Klavier, meinem Hauptaufenthaltsort außerhalb der Schule. Aber eine richtige Beheimatung war das
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