Endlich wieder leben
Buchen und erörterten Grundfragen wie: Gibt es einen Gott oder ist Gott vielleicht nur eine Erfindung der Menschen? Wir argumentierten hin und her. Gibt es vielleicht statt Gott nur den Glauben an Gott, weil Menschen ohne ihn verzweifeln würden? Oder ist es – wie ich ins Tagebuch schrieb – »ein Gottesbeweis, dass der Mensch von jeher zwar nicht die Erfahrung, aber eine Idee von Gott hatte? Also muss ihm Gott selbst all das gegeben haben: den Gedanken an seine Existenz und das Verlangen nach ihm.« Dann wäre der Glaube selbst eine Schöpfung Gottes – also ein Gottesbeweis.
Auch im Bethel der Nachkriegszeit blieb der Krieg allgegenwärtig – als Rede vom »schrecklichen Krieg«, vom Bösen, von der
»Schuld des Menschen«, der Krieg als eine eigenartig ursachenlose Katastrophe. »Nie wieder Krieg« – darüber herrschte Einvernehmen. Aber »Nie wieder Auschwitz« hat damals niemand gesagt. Über die Vernichtung und die Vernichter von Juden, Polen, Zigeunern, Schwulen et cetera wurde nicht gesprochen. Alle waren irgendwie Opfer, es gab keine Täter, jedenfalls keine deutschen Täter. Auch in dem Film Die Mörder sind unter uns , den ich Anfang der fünfziger Jahre zum ersten Mal sah, wurde nicht aufgeklärt, was in den Konzentrationslagern geschehen war und wer wen umgebracht hatte. Auf dem Soldatenfriedhof in Dahn im Schwarzwald, auf dem wir einmal nach dem Grab des Bruders meiner Mutter suchten, war ich hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Anklagen, die keine Adresse hatten.
1955 war eine Medizinstudentin in unsere Klasse eingeladen worden, um über ihre Flucht aus der DDR zu berichten. Sie war erwischt worden, als sie mit einer Studentengruppe Flugblätter aus West-Berlin verteilen wollte. Sie hatte im Gefängnis gesessen, war geprügelt worden. Zu ihrem Verlobten, der zu drei Jahren verurteilt worden war, hatte sie keinerlei Kontakt. Für mich war das alles neu. Ich war erschüttert. »Ich kam mir vor«, schrieb ich ins Tagebuch, »als hätte ich mein ganzes Leben bisher hinterm Ofen gesessen.«
Am meisten berührt hat mich im selben Jahr die Freilassung der deutschen Soldaten aus russischer Gefangenschaft. Adenauer hatte bei seinem Besuch in Moskau 10 000 deutsche Kriegsgefangene und 20 000 inhaftierte Zivilisten freihandeln können. Als die Transporte im Lager Friedland ankamen, habe ich stunden- und tagelang am Radio gehangen und mir schluchzend die Übertragungen angehört: die Begrüßungsreden der Soldaten, den Choral »Nun danket alle Gott« und schließlich das Verlesen der endlosen Namenslisten. Ich wollte damals unbedingt über das Rote Kreuz Kontakte herstellen, Pakete verschicken. Vor allem wollte ich einen heimatlosen Heimkehrer in unsere enge Wohnung aufnehmen, einen von denen, die nach Hause und dann doch nicht nach Hause kamen, weil es nach zehn Jahren Gefangenschaft für sie kein Zuhause mehr gab, weil das Haus kaputt war und die Eltern tot und die Frau sie vergessen hatte.
Bild 1
Die Männer, die als Soldaten in den Krieg gezogen und versehrt an Leib und Seele zurückgekehrt waren, nannte man Krüppel – mitleidlos, auch respektlos und ohne Dankbarkeit. Es waren viele, und sie erinnerten geradezu allgegenwärtig an das, was man vergessen wollte. Die Welt sollte wieder hell und heil werden.
Ich versuchte, auch Mitschülerinnen für meine Aktion zu gewinnen, doch die wehrten ab, das sei nichts als ein aufflackerndes Gefühl von kurzer Dauer.
Wie sich später herausstellen sollte, war dieses Mitgefühl für die Heimkehrer bei mir allerdings nicht von kurzer Dauer. 1958 begegnete ich einem Studenten, der sich von den Übrigen in jeder Hinsicht unterschied. Er war ein Außenseiter, älter als die anderen, und er sah aus wie ein ehemaliger Soldat, wie einer der Heimkehrer aus Friedland. Im Nachhinein erinnert er mich an Beckmann in Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür . Er trug noch dreizehn Jahre nach dem Krieg einen Soldatenmantel und sah unendlich traurig aus. Meist schwieg er, aber wenn er sprach, klang es druckreif. Er wirkte auf mich geheimnisvoll, fremd, unnahbar, gefangen in einem Schmerz, von dem aber niemals gesprochen wurde. Ausgerechnet in ihn verliebte ich mich.
Er kam aus der DDR, war mit vierzehn Jahren als Flakhelfer eingezogen worden, in russische Kriegsgefangenschaft geraten und auf äußerst komplizierten Wegen zurückgekommen – ein depressiver, irgendwie verlaufener, hoch komplizierter Mensch –, heute würde ich sagen, er war ein
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