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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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hatte eine eingerollte Fahne geschultert wie einen Speer. Sie rauchten im Laufen, wechselten keuchend ein paar Worte, zogen die Köpfe ein und schauten sich immer wieder um. Sie wirkten besorgt und verwirrt.
    Auf dem Wachposten, den mit Plakaten beklebte, kreuzund quer über die Twerskaja verteilte Bänke markierten, stand ein schnauzbärtiger Mann in einem Segeltuchumhang, eine Maschinenpistole aus Holz in der Hand.
    »Warum keine echte Waffe?« fragte ein bebrillter Bürger jenseits der Absperrung mißtrauisch.
    »Weil wir eine Revolution ohne Blutvergießen wollen«, antwortete der Schnauzbart bereitwillig. »Wie in der Ukraine, ohne einen einzigen Schuß, allein durch den Willen des Volkes!«
    »Ich habe aber gehört, daß vor Moskau Truppen zusammengezogen werden«, meldete sich ein junger Mann mit schwarzer Kapuze, der aussah wie ein Agent der Heiligen Inquisition, nur in Lederjacke. Allem Anschein nach war er von der Horde junger Radikaler getrennt worden und suchte Anschluß.
    »Ach, ’91 sind auch Panzer über den Arbat gefahren, und nichts ist passiert!« Der Schnauzbart zündete sich eine Zigarette an und zwinkerte seinen beiden Opponenten listig zu wie Wassili Tjorkin,womit er ihnen signalisierte: Wir werden siegen.
    Der junge Inquisitor steckte den Kopf zum Wagenfenster herein.
    »Hör mal, Kumpel, wollen wir nicht zum Weißen Haus fahren und sehen, was da los ist?«
    Früher wäre Junker ob solcher Dreistigkeit sofort ausgerastet, und die Kapuze hätte zu Fuß zur Krasnopresnenskaja stiefeln müssen. Denn die Metro, das hatten Junker und Roschtschin Nikita unterwegs erklärt, war aus Angst vor Sabotageakten gleich in den ersten Tagen geschlossen worden. Alle unterirdischen Bediensteten waren ans Tageslicht gekommen und mit den brodelnden revolutionären Massen verschmolzen.
    Doch Junker, den das Landleben oder die Revolution gütiger gestimmt hatten, hielt dem Jungen keine Standpauke über gute Manieren, sondern öffnete ihm die Wagentür und fuhr zum Weißen Haus.
    Der Junge drehte den Kopf nach allen Seiten und rutschte auf dem Sitz hin und her.
    »Was hast du?« fragte Roschtschin, der den Lehrer in sich einfach nicht ablegen konnte.
    »Ach, Scheiße, Mann, das ist eine komische Revolution. Was ist los? Wohin gehen? Was tun? Barrikaden hier, Barrikaden dort, der Fernseher schweigt. Jeder sagt was anderes. Im Bunker ist kein Mensch. Sieht glatt so aus, als müßte man gar nichts tun. Hauptsache, du bist dabei und läufst mit, alles passiert von allein, auch ohne dich. Wir haben uns die Revolution ganz anders vorgestellt. Wir dachten, vieles würde von uns abhängen. Wir dachten, wir würden kämpfen, auf Leben und Tod!«
    »Sei froh, du Dummkopf, daß du nicht in den Kugelhagel mußt! Du Grünschnabel, du hast doch das Leben noch vor dir!« rief Roschtschin.
    »Wir Jungen haben auch ein Recht zu sterben!« wiederholte der Junge pathetisch eine fremde Weisheit, die ihm die Parteipropaganda in den Kopf gehämmert hatte. »Warum meint ihr, Minderjährige wären keine Menschen?! Daß wir unseren Lebensweg nicht bewußt selbst wählen können?!«
    »He, verschon mich bitte mit Limonow-Zitaten«, unterbrach ihn Roschtschin. »Ich rede nämlich von was ganz anderem, wie du vielleicht bemerkt hast.«
    »Apropos Kugelhagel – wissen Sie, ich würde lieber im ehrlichen Kampf fallen als sinnlos zwischen Regierungssitz und Duma hin und her zu rennen, um zu begreifen, was vorgeht. Während stinkreiche Blutsauger, die kein bißchenbesser sind als die davor, bloß noch nicht so satt, alles ohne uns entscheiden!«
    »Ja!« bekräftigte Roschtschin. »Und eines Morgens, wenn ihr auf den Barrikaden an eurer Plastikpampe würgt, weil der liebe Sponsor zu geizig war für einen Borschtsch und euch mit chinesischen Tütensuppen abspeist, präsentiert man euch einen neuen Präsidenten, veranstaltet ein Konzert mit freiem Eintritt und ein schönes Feuerwerk, und das war’s! Die Revolution hat gesiegt, vielen Dank an alle, ihr könnt gehen!«
    »Genau«, bestätigte der junge Revolutionär. »Und wir gehen wieder zurück in den Bunker, Bier trinken, und sie teilen die Posten und die Erdölquellen unter sich auf. Das ist das Gemeine! Wenn ihr wüßtet, wie weh das tut! Für euch ist die Revolution nur ein Abenteuer, ein außerplanmäßiger Urlaub, wo ihr nicht ins Büro gehen müßt, aber für uns ist sie der Sinn des Lebens!«
    Der Junge wandte sich ab und schniefte. Moskau verschwamm vor Nikitas Augen, rollte sich

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