Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
um.
Eine gitterartig durchbrochene Mauerbrüstung, überragt von hohen plumpen Türmchen, zog sich rings um das Dach — viel zu hoch zum Überklettern. Durch eines der herausgemeißelten Gitterquadrate in der Brüstung konnte Blake die Menschenmenge unten auf der Straße erkennen.
»Hey! Hier oben!«, schrie er und schwenkte die Arme, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Aber seine Stimme wurde von der Alarmsirene übertönt, und niemand hörte den verängstigten Jungen auf dem Turm.
In der Ferne heulten Sirenen auf, als Antwort auf den Notruf aus der Bodleian Library.
Inzwischen hatte Blake auf der anderen Turmseite die eiserne Feuerleiter bemerkt, doch als er hinlaufen wollte, versperrte ihm plötzlich Diana den Weg. Ihr Gesicht war hart und mitleidslos. Ohne noch viel Hoffnung zu haben, schwenkte Blake Ducks gelben Regenmantel durch die Luft und schrie noch einmal um Hilfe.
Unten waren etliche Leute damit beschäftigt, Alice zu bändigen, die immer noch wie verrückt gegen die Eingangstür der Bibliothek sprang. Andere zeigten auf die vielen Fenster und rätselten, hinter welchem der Grund für all die Unruhe sein mochte. Endlich aber entdeckte jemand etwas Gelbes, Flatterndes oben auf dem Turm und sah Blake. Sofort wandten sich lauter erschrockene Gesichter in diese Richtung.
Nach einem Augenblick fassungsloser Stille vibrierte die Luft plötzlich von Schreien und Rufen. Leute sprangen hoch, riefen Blake etwas zu, fuchtelten mit den Armen.
Blake fuhr herum ... zu langsam. Ein Schlag, der ihm fast das Bewusstsein raubte, traf ihn an der Wange. Diana hatte ihm das Letzte Buch über den Kopf gezogen, so dass er rückwärts taumelte und hart gegen die Brüstung schlug. Automatisch ließ er Ducks Regenmantel los, und der flatterte schlaff vom Turm auf den Bürgersteig hinunter.
Nachdem er seine Wange betastet hatte, waren seine Finger rot und feucht von Blut. Ihm wurde übel. Die Welt verschwamm vor seinen Augen, und alle Bewegungen nahm er wie in Zeitlupe wahr. Hilflos sah er Diana an, die das Letzte Buch an ihre Brust drückte -mörderische Wut in den Augen.
»Du wirst tun, was ich dir sage, und das Buch öffnen!«, befahl sie. »Oder ich bringe dich um.«
Er schüttelte den Kopf, kaum mehr in der Lage, ihr mit Worten zu trotzen.
»Nein«, murmelte er schwach.
Sie musterte ihn mit stummem Hass. »Also dann«, sagte sie.
Mit unerwarteter Heftigkeit schlang sie den Arm um seinen Hals und zerrte ihn auf die Füße. Blake bekam ein puterrotes Gesicht und dachte, sein Kopf würde gleich platzen. »Wenn ich das Buch nicht bekomme«, wütete Diana, »dann sollst du es auch nicht bekommen.«
Blake hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Er ließ die Arme hängen, sie waren schwer und kraftlos. Er war vollkommen erschöpft. Der Schatten hatte ge vonnen.
Dianas Handschuh scheuerte an seiner Haut, sie schlang den Arm noch fester um seinen Hals. Er konnte kaum mehr atmen, er würgte und keuchte, seine Knie gaben nach.
Schwach konnte er unten die Leute rufen hören. Hunderte Gesichter sahen entsetzt herauf, manche Leute fotografierten, doch er sah und hörte sie nur undeutlich und gedämpft, verschwommen wie von brandenden Wogen herangetragen. Ihm war, als müsse er in der Luft ertrinken. Es gab keine Hilfe mehr.
»Ich lasse mir das Buch nicht nehmen!«, zischte Diana und drückte Blake gegen die Mauerbrüstung. Er spürte die scharfe Kante einer der Gitteröffnungen in seiner Seite. »Ein Jammer nur, dass es so enden muss!«
»Nein!« Ein letztes Mal lehnte sich Blake auf, er biss und schlug um sich, er wand und krümmte sich mit dem letzten Rest an Kraft, der noch in ihm steckte.
Diana ließ vor Verblüffung das Buch aus der Hand fallen. Wie vom Donner gerührt mussten sie beide zusehen, wie es durch eine der Gitteröffnungen ins Leere stürzte.
Augenblicklich ließ Diana Blake los und streckte voll Verzweiflung ihre Handschuhfinger nach dem Buch aus, als wolle sie es noch im Sturz festhalten, aber es fiel... und fiel... und fiel auf Ducks gelben Regenmantel, der wie ein lebloser Körper weit unten auf dem Boden lag.
Oben auf dem Turm aber sank Blake ohnmächtig zusammen.
Oxford
Sommer - Winter 1453
ch hatte das Gefühl, als würde ich fliegen. Menschen torkelten betrunken um mich herum, drehten sich auf den Fersen um sich selbst, und Häuser, Schankwirtschaften und Türme schlugen Purzelbäume. Überdachte Marktstände schwankten gefährlich.
Ich wusste nicht, wo ich war. Unter
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