Endzeit
Sie durchstieß die Oberfläche, japste wie eine Ertrinkende nach Luft und sah sich erstaunt um.
»Chiyoda!«
Ihr Mentor sah fast teilnahmslos auf sie herab. Der greise Werwolf, der nach Belieben zwischen den Wirklichkeiten wechseln konnte, war ein vertrauter Anblick. Dennoch war Nona irritiert, gerade bei ihm zu erwachen.
Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, aber es fiel ihr schwer, einen klaren Kopf zu bekommen. Noch immer war da der schwarze Ozean, der erneut nach ihr greifen wollte. Wenn sie die Augen schloß, sah sie sich wieder in seiner unermeßlichen kalten Tiefe versinken. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen derartig intensiven Alptraum gehabt zu haben.
Offensichtlich befand sie sich in Chiyodas Refugium in der Mandschurei. Sie erkannte die Wände und Möbel des Quartiers, das er ihr stets freihielt, wenn sie zu Besuch bei ihm war.
Aber sie wußte nicht, wie sie hierhergekommen war. Die Realität schien mit ihrem Erwachen mit jeder Sekunde mehr zu verblassen -wie Traumbilder, die sich um so schwerer fassen ließen, je mehr sie versuchte, sie zu bannen.
»Wie lange habe ich geschlafen?« fragte sie schwach.
»Nicht so lange, als daß du dich nicht aus eigener Kraft hättest entscheiden können.«
Verwirrt sah sie ihn an und verfluchte im Stillen Chiyodas Vorliebe, in Rätseln zu sprechen.
»Dieser merkwürdige Traum ... ich hatte das Gefühl, in einem schwarzen Ozean immer tiefer hinabzusinken. Dort unten lauerte etwas Schreckliches. Und dann sah ich das Licht und kämpfte mich darauf zu. Was hat das zu bedeuten, Chiyoda?«
»Es bedeutet, daß du dich richtig entschieden hast«, entgegnete ihr Mentor und lächelte. »Du hast das Licht gewählt. Es ist leicht, sich dem ewigen Vergessen und der Schwere hinzugeben. Aber es ist un-ser Schicksal, uns dagegen aufzulehnen.« Der greise Mann, der den Wolf in sich schon vor langer Zeit besiegt hatte, sah sie mit einem beschwörenden Blick an, aber Nona schüttelte den Kopf.
»Das klingt so weise - und ist doch so vage«, antwortete sie. »Was ist mein Schicksal, Chiyoda?«
»Jeder Schritt deines Lebens bringt dich deinem Schicksal ein wenig näher«, antwortete er. »Aber der Weg führt nicht geradeaus. Es gibt Abzweigungen und Fallen, Labyrinthe, in denen du dich zu verlieren und auf immer vom Weg abzukommen drohst. Du irrst darin so lange umher, bis du den Weg selbst vergißt und glaubst, das Labyrinth wäre dein Ziel. Das sind die schlimmsten Fallen!«
Chiyoda erhob sich, als wollte er sie verlassen. Vielleicht warteten seine Schüler auf ihn. Oder er harrte schon zu lange neben ihrem Bett aus.
»Der Ozean!« sagte Nona schnell. Sie wollte nicht, daß er sie allein ließ. »War er eine solche Falle?«
»Vielleicht«, antwortete Chiyoda. Ungeduld schwang jetzt in seiner Stimme. »Vielleicht würdest du dich auf Ewigkeiten darin verlieren, ohne je den Grund zu erreichen.« Seine Antworten auf Nonas Fragen hinterließen mehr Rätsel, als daß sie ihr Klarheit verschafft hätten.
Seine Gestalt schien plötzlich ... zu verschwimmen, so daß Nona das Gefühl hatte, abermals im Ozean zu versinken und die Gestalt ihres Mentors durch einen Wasserschleier zu sehen. Träumte sie denn noch immer?
»Geh nicht fort!« flehte sie ihn an. Sie kam sich vor wie eine Ertrinkende, deren rettender Anker sich soeben in Luft auflöste.
Doch die Gestalt des greisen Werwolfs verblaßte und war schließlich ganz verschwunden, so als hätte er niemals existiert.
Nona erhob sich von ihrem Bett. Sie spürte, daß ihre Glieder schwer waren, als würde ein Teil ihres Körpers noch immer in jene Ozeantiefen hinabgezogen. Sie taumelte, fing sich aber wieder und ging vorsichtig ein paar Schritte.
War sie etwa krank gewesen und litt noch immer an den Folgen irgendeines Fiebers?
Aber warum hatte Chiyoda sie dann nicht einfach darüber aufgeklärt. Oder hatte er ihr irgendwelche Drogen verabreicht, sie gar mit seiner Magie beeinflußt?
Wieder versuchte sich Nona zu erinnern, aber es fiel ihr noch schwerer als zuvor. Außer ein paar verschwommener Bilder herrschte in ihrem Kopf eine seltsame Leere.
Wenn ihre Erinnerung sie schon im Stich ließ, so war es um so wichtiger, den Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie kämpfte gegen den Taumel an, und mit jedem Schritt gelang es ihr leichter, ihren Kreislauf in Balance zu halten.
Trotzdem schien es unendlich lange zu dauern, bis sie den Raum durchquert und die Tür erreicht hatte.
Sie öffnete sie und schaute in
Weitere Kostenlose Bücher