Endzeit
ahme ich ihre Bewegungen nach und lasse meine Arme im Rhythmus kreisen – nicht um Energie aufzunehmen, sondern um sie loszuwerden. Manchmal erblicke ich mich unerwartet in einer Ecke des Spiegels, sehe mein Haar, meine Augen, meinen Mund, die Haltung meines Kopfes, hüte mich aber, etwas auf mein Aussehen zu geben. Es hat mir kein Glück gebracht.
Als ich Bethany Krall zum ersten Mal begegne, arbeite ich seit zwei Wochen als Vertretung für Joy McConey, eine Psychotherapeutin, die eine Auszeit genommen hat, vermutlich ein Euphemismus für irgendeinen unausgesprochenen Skandal. Meine neuen Kollegen möchten nicht über sie sprechen. In Einrichtungen, die als Mülleimer für Menschen angesehen werden, ist die Fluktuation hoch. Die meisten von uns haben flexible Verträge. Es sind Stellen ohne Prestige. Man redet von neuerlichen Kürzungen, die zu einer endgültigen Schließung von Oxsmith führen könnten. Ich aber komme frisch aus der Reha, dem erzwungenen Rückzug |14| von der »Front«, wie man es dort nannte, und kann daher nicht wählerisch sein. Da ich keine langfristigen Pläne habe, versuche ich mir einzureden, dass eine kurzfristige Strategie an einem fremden Ort besser ist als ein vertrauter Ort ohne jede Strategie.
Zwischen den kaputten Büroklammern, der welken Grünlilie und den alten Kaffeebechern aus Styropor, die Joy McConeys verlassenes Büro bevölkern, finde ich eine Grußkarte. Darauf hat jemand in kleinen, gehetzt wirkenden Buchstaben die rätselhafte Botschaft hinterlassen:
»Für Joy. Die wahrhaft glaubte.«
Woran? An Gott? An das Ende des Leidens in Israel und dem Iran? An die psychotischen Phantasien eines Insassen? Die Unterschrift kann ich nicht entziffern. Ich mag Grünlilien nicht besonders. Doch irgendetwas – vielleicht mein zerbrechlicher, inkonsequenter innerer Buddha – hält mich davon ab, unnütz Leben zu vernichten, selbst wenn es in der Nahrungskette sehr weit unten steht.
Soll sie leben. Aber man braucht sie nicht auch noch zu ermutigen.
Anscheinend kann Kaffee trotz Plastikdeckel schimmeln. Ich gieße die Reste in die asbestverseuchte Blumenerde und werfe den Becher zu Joys Karte in den Papierkorb.
Ich bin kein netter Mensch.
Etwas habe ich von meinen gestressten Kollegen aufgeschnappt: Man hat mir Bethany Krall zugewiesen, weil niemand sonst mit ihr arbeiten will. Als Neuankömmling habe ich keine Wahl. Bisher haben alle, die mit Bethany Krall zu tun hatten, sie als nicht therapierbar bezeichnet, ausgenommen Joy McConey, deren Notizen sich aber nicht in der Akte finden – womöglich hat sie niemals welche angefertigt. Zwar macht es mich nicht nervös, Bethany Krall unter meinen Patienten zu haben, doch meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Seit dem Unfall empfinde ich körperliche Gewalt anders als früher. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um mich davor zu schützen. Bis auf eines – mein Haar, dessen Länge sich durchaus zum Erdrosseln eignen würde, habe ich nicht angerührt, darin bin ich eitel. Doch nun, da Bethany Krall auf meiner Patientenliste steht, werde ich vielleicht |15| doch zum Friseur gehen: Laut Akte ist mein neuer Schützling ein Extremfall in Sachen Aggressivität.
Nachdem ich zehn Jahre mit psychotischen Jugendlichen wie Bethany Krall gearbeitet habe, bin ich solche Geschichten gewöhnt, doch der Mord an ihrer Mutter weckt in mir ein vertrautes flaues Gefühl, eine Art moralischen Schmerz. Die knallbunten Polizeifotos in der Akte lassen mich flüchtig die Augen schließen und lenken meinen Blick wieder zum Fenster, wobei ich mich frage, wie man freiwillig Gerichtsmediziner werden kann. Außer den fernen Windrädern gibt es kaum Trost fürs Auge. Der schimmernde Asphalt des verlassenen Basketballplatzes, eine Reihe Müllcontainer und dahinter der Elektrozaun, eine Aussicht, die einen Country-Akkord voller Selbstmitleid in mir anschlägt. Bei meiner Ankunft habe ich flüchtig mit dem Gedanken gespielt, ein Foto von Alex neben meinen Computer zu stellen – lachendes Alphamännchen am Roulettetisch –, zusammen mit meiner Familiensammlung: verstorbene Mutter, die an einem Kiesstrand in die Sonne blinzelt; Bruder Pierre mit frisch entbundener Frau und Zwillingssöhnen; Vater im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, der mit Kreuzworträtsel im
Daily Telegraph
kämpft. Aber ich tat es nicht. Warum mich jeden Tag an das erinnern, was ich auf die eine oder andere Weise zu Grabe getragen habe? Außerdem würden neugierige Kollegen Fragen
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