Engel aus Eis
Arbeit zu konzentrieren. Zielstrebig ging Axel auf ihn zu. Er musste so tun, als hätte er etwas zu erledigen. Das war der Trick. Unter keinen Umständen durfte er den Fehler machen, sich nervös umzusehen. Genauso gut hätte er sich eine Zielscheibe an die Brust heften können.
Als er bei dem Mann angekommen war, der noch immer keine Notiz von ihm genommen hatte, packte er eine Kiste und half beim Stapeln. Im Augenwinkel sah er, dass die Kontaktperson im Schutz einiger Kisten etwas fallen ließ. Axel beugte sich hinunter, um noch eine Kiste anzuheben, schnappte sich aber zuerst das zusammengerollte Blatt Papier und steckte es in die Tasche. Die Übergabe war erledigt. Noch hatten der Mann und er keinen Blick gewechselt.
Erleichterung rauschte durch seine Adern. Ihm wurde fast schwindlig davon. Die Übergabe war immer der kritischste Moment. Hatte er die erst hinter sich, war die Gefahr nicht mehr so groß …
»Halt! Hände hoch!«
Der deutsche Befehl kam aus dem Nirgendwo. Verblüfft betrachtete Axel den Mann an seiner Seite. Dessen beschämter Blick verriet ihm, was los war. Eine Falle. Entweder war der gesamte Auftrag ein Täuschungsmanöver gewesen, oder die Deutschen hatten irgendwie erfahren, was hier gespielt wurde, und die Einheimischen gezwungen, ihn in die Falle zu locken. Wie auch immer, Axel wusste, dass es vorbei war. Die Deutschen hatten ihn wahrscheinlich beobachtet, seit er an Land gegangen war. Das Dokument in seiner Tasche brannte wie Feuer. Er hielt die Hände über den Kopf und ergab sich. Die Männer gehörten der Gestapo an. Das Spiel war aus.
E inenergisches Klopfen störte ihn bei seinem morgendlichen Ritual. Jeden Morgen das Gleiche. Zuerst duschen und rasieren, dann das Frühstück vorbereiten: zwei Eier, eine Scheibe Roggenbrot mit Butter und Käse und ein großer Becher Kaffee. Er aß jeden Morgen das Gleiche und zwar vor dem Fernseher. Seit den Jahren im Gefängnis legte er Wert auf Routine und Vorhersehbarkeit. Es klopfte erneut, und Frans ging verärgert zur Tür.
»Hallo, Frans.« Draußen stand sein Sohn. Er hatte wieder diesen harten Blick in den Augen, an den er sich erst hatte gewöhnen müssen.
Frans konnte sich nicht mehr an die Zeit erinnern, als alles anders gewesen war. Was man nicht ändern konnte, musste man akzeptieren, und das hier gehörte zu den Dingen, gegen die er machtlos war. Nur in seinen Träumen fühlte er manchmal eine kleine Hand in seiner. Eine vage Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit. Mit einem kaum hörbaren Seufzen trat er beiseite und ließ seinen Sohn herein.
»Hallo, Kjell«, sagte er. »Was willst du denn von deinem alten Vater?«
»Erik Frankel«, antwortete Kjell kalt und sah seinen Vater prüfend an, als erwarte er eine ganz bestimmte Reaktion.
»Komm rein. Ich bin gerade beim Frühstück.«
Kjell folgte ihm ins Wohnzimmer. Er konnte seine Neugier nicht verhehlen. Diese Wohnung hatte er noch nie betreten.
Frans fragte seinen Sohn gar nicht erst, ob er auch einen Kaffee wollte, weil er die Antwort schon wusste.
»Was ist denn mit Erik Frankel?«
»Du wirst doch wissen, dass er tot ist.«
Frans nickte. »Ja, ich habe gehört, dass der alte Erik tot ist. Bedauerlich.«
»Ist das deine ehrliche Meinung? Findest du es wirklich bedauerlich?« Kjell sah ihn forschend an. Frans wusste auch, warum. Er war nicht als Sohn gekommen, sondern als Journalist.
Frans ließ sich mit der Antwort Zeit. Unter der Oberfläche brodelte vieles, Erinnerungen, die ihn sein Leben lang begleitet hatten. Aber seinem Sohn konnte er davon nichts erzählen. Kjell würde ihn nie verstehen. Er hatte seinen Vater schon vor langer Zeit verurteilt. Zwischen ihnen stand seit vielen Jahren eine Mauer, die so hoch war, dass man keinen Blick hinüberwerfen konnte. Größtenteils hatte er sich das selbst zuzuschreiben. In seiner Kindheit hatte Kjell seinen Vater im Knast nicht oft zu Gesicht bekommen. Ein paar Mal hatte seine Mutter ihn mitgenommen, aber der Anblick des kleinen Jungen, dem inmitten des kalten und ungastlichen Besuchsraums so viele Fragen ins Gesicht geschrieben standen, hatte ihn hart werden und weitere Besuche ablehnen lassen. Er glaubte, für den Jungen wäre es besser, überhaupt keinen Vater zu haben als ihn. Vielleicht hatte er sich geirrt. Aber nun konnte er nichts mehr dagegen machen.
»Ja, ich bedaure Eriks Tod. Wir kannten uns in unserer Jugend, und ich habe nur gute Erinnerungen an Erik. Später haben wir unterschiedliche Richtungen
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