Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Beine kommen würde.
»Gratias do, domina!« [94] , flüsterte Bruder Hilpert und wandte sich zu
den beiden Särgen um, die nur wenige Schritte entfernt vor dem Altar zu Füßen des
Lettners standen. Noch heute würden sowohl Agnes als auch Egberta und ihre kleine
Tochter hier zur letzten Ruhe gebettet werden, Seite an Seite mit den Vornehmen
und Angesehenen der Stadt. Dafür konnte man Bruder Alban nicht genug danken, der
seinen gesamten Einfluss geltend gemacht hatte, um dies zu ermöglichen. Insbesondere
in Bezug auf Egbertas Neugeborenes waren dazu erhebliche Überredungskünste nötig
gewesen, handelte es sich doch um ein ungetauftes und der verbreiteten Anschauung
zufolge in ungeweihter Erde zu bestattendes Kind.
Ein erleichtertes Lächeln
im Gesicht, in das sich eine gehörige Portion Schwermut mischte, ließ Bruder Hilpert
den Blick über die Grabplatten, Seitenaltäre und Bildnisse auf dem Lettner schweifen,
durchmaß das Kirchenschiff und begab sich zur Tür. Wahrlich, ein wenig Ruhe tat
jetzt not, je früher, desto lieber war es ihm.
Wieder im Freien, blickte sich der Bibliothekarius
schlaftrunken um. Die zweite Stunde war gerade angebrochen, der Himmel beinahe wolkenlos
und azurblau, und die Luft deutlich milder als zuvor. Auf der Herrngasse, wo ein
fahrender Kesselflicker, zwei Junker zu Pferde und ein Geselle mit einem Karren
voll herrlich duftender Brotlaibe ihres Weges zogen, war der Schnee beinahe weggeschmolzen,
und alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass es endlich Frühling werden würde.
Bruder Hilpert hatte noch keine drei Klafter
zurückgelegt, als er am Ende der Klostergasse eine vertraute Gestalt auftauchen,
wie von Sinnen mit den Armen wedeln und über die Straße hinweg auf ihn zurennen
sah.
Berengar, aus dem Häuschen vor Glück. Wahrlich,
schneller hätte die Muttergottes seine Gebete nicht erfüllen können.
Bruder Hilpert hatte Mühe, das Gleichgewicht
zu halten, so stürmisch fiel die Umarmung aus, die sein Freund ihm zuteilwerden
ließ. »Geschafft!«, keuchte er ein ums andere Mal, »sie ist über den Berg, Bücherwurm!«
»Über den Berg?«, wollte Bruder Hilpert wissen,
im Bewusstsein, wie töricht die Frage war. »Ist … hat sie … herrje, was ist denn
eigentlich los?«
»Welch ein Genuss, dich zur Abwechslung einmal
ratlos zu erleben!«, witzelte Berengar, löste sich aus der Umarmung und kniff Bruder
Hilpert in die Wange. Dann nahm er ihn beiseite und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Bruder Hilpert, dessen Müdigkeit wie weggeblasen war, hörte mit wachsendem Enthusiasmus
zu.
»Wie?«, rief er am Ende des beinahe eine Viertelstunde
dauernden Monologs aus, ungeachtet der beiden Marktfrauen, welche die Szene von
der anderen Straßenseite aus verfolgten, »Vater? Du? Und wann?«
»In circa vier Monaten.«
»Heilige Jungfrau, hilf! Das könnt ihr mir doch
nicht antun«, feixte der Bibliothekarius, dem die Erleichterung über den Ausgang
des Dramas deutlich anzumerken war. »Noch so ein Rüpel, der mir das Leben zur Hölle
macht.«
»Keine Angst, falls es ein Junge wird, werden
wir ihn ganz bestimmt nicht Hilpert taufen«, hielt der Vogt dagegen und sah sich
freudestrahlend um. »Weißt du was?«, verkündete er und bugsierte den Freund Richtung
Marktplatz, wo bereits reges Treiben herrschte. »Ich muss jetzt erstmal was trinken.
Du doch wohl auch, oder?«
»Und die Priorin?«, warf Bruder Hilpert, den
die Aussicht auf einen Umtrunk nicht gerade in einen Freudentaumel versetzte, eilends
ein. »Was ist mit der?«
»Die hab ich zusammengestaucht, dass es nur
so kracht. Unter tätiger Mithilfe der Küchenmeisterin.« Der Vogt grinste über beide
Backen. »Du wirst es nicht glauben, aber mittlerweile frisst mir der alte Drachen
aus der Hand.«
»Heilige Jungfrau, wo soll das bloß enden!«,
lamentierte der Bibliothekarius mit gespieltem Ernst. »Kannst du mir das verraten?«
»Im Wirtshaus, wo sonst«, gab Berengar zurück
und tänzelte beschwingt von dannen. »Jetzt komm schon, oder willst du hier etwa
Wurzeln schlagen?«
Siebtes Kapitel
Rothenburg ob der Tauber, zwei Tage vor Palmsonntag
(Freitag, 18. März 1418)
Poena [95]
31
Rothenburger Richtstätte, kurz nach Sonnenuntergang │ [17.45 h]
Friedhelm, Henker zu Rothenburg, hatte seine Arbeit getan, und im Gegensatz
zu vielen Hinrichtungen, mit denen er betraut worden war, hatte er sie dieses Mal
gerne getan. Dies eine Mal nur, aber, so sehr er sich dafür schämte, mit
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