Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
das sah man dem sich wie toll Gebärdenden auch an. »Aber merkt Euch eins: Ihr
seid nicht viel besser als ich. Keiner von Euch, nicht einmal du, Mönch! Oder die
dreckige kleine Metze da. Oder die Frau Wirtin. Oder der Bucklige, der nichts Besseres
zu tun hat, als tagtäglich in der Scheiße zu wühlen. Wollust, na und? Wer kann schon
von sich behaupten, dass er gefeit gegen sie sei? Etwa der dunkelhaarige Recke da
drüben? Doch wohl kaum. Ich will Euch mal was sagen, Ihr Heuchler. Ihr habt genauso
viel Dreck am Stecken wie ich. Je unschuldiger, desto hintertriebener, kann ich
nur sagen. Vor allem du, kleines Biest, oder weißt du nicht mehr, wie du geschrien
hast, als ich im Badehaus über dich hergefallen …«
»Genug, Tuchscherer – das reicht.«
»… bin? Wer … wer ist es, der zu mir spricht?«
»Ich, Wollüstling!«, unterbrach Melusine das
Spektakel, trat hinzu und öffnete die Tür. »Spute dich, du wirst erwartet!«
Wie vom Blitz getroffen, verharrte Tuchscherer
auf der Schwelle und sah die Anwesenden, deren Gesichter sich in Dämonenfratzen
zu verwandeln schienen, mit irrlichternden Blicken an. Dann spie er aus und stürzte
davon.
Kurz darauf, im Halbdunkel von Adelheids Kammer,
war es endgültig um ihn geschehen. Die Dämonen, welche ihm auf dem Fuße folgten,
waren vergessen, vergessen auch das Leben, von dem er gerade Abschied nahm. Einfach
alles, auch sein Name, die Erinnerung an vergangene Zeiten und begangene Schandtaten,
war aus seinem Gedächtnis getilgt.
Alles? Nicht ganz. Für den Rest seines kümmerlichen
Erdendaseins, welches er hinter Gittern fristen sollte, hatte er nur dieses eine
Bild vor Augen, Stunde um Stunde, unentwegt, ohne Unterlass. So lange er lebte,
würde es nicht mehr von ihm weichen, mochte er auch noch so laut toben oder schreien.
Es war der von Windlichtern umgebene Leichnam
von Agnes Egerter, welcher ihn endgültig den Verstand verlieren und bis zum Morgengrauen
Totenwache halten ließ. Und siehe, alsbald drängten die Dämonen hinzu und wichen
von Stund an nicht mehr von seiner Seite.
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Stadthaus der Familie Wernitzer, eine knappe Stunde nach Mitternacht │ [00.53]
»Du – hier? Was hat das zu bedeuten, mein Sohn?«
»Ja, ich, Mutter.« Die Ellbogen auf den Knien,
rührte sich Heinrich Bermetter, Mitglied des Inneren Rates, keinen Zoll von der
Stelle und starrte mit tiefliegenden Augen vor sich hin. In den vergangenen zwei
Tagen hatte er kaum Schlaf gefunden, und nichts deutete darauf hin, dass die Misere
ein Ende haben würde. Die Miene des Bankrotteurs verdüsterte sich. Der Tod seiner
Halbschwester und die Querelen mit seinem Schwager waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen,
und er fragte sich, ob die Freveltat, von der er nach der Ratssitzung erfahren hatte,
je aufgeklärt werden würde.
»Ausgerechnet hier, mitten in der Nacht? Was
geht dir durch den Kopf, mein Sohn? Sprich!«
»Einiges, Mutter, einiges.« Ohne sich nach ihr
umzudrehen, ließ Bermetter das Kinn auf den zusammengepressten Fäusten ruhen und
machte keinerlei Anstalten, die Kammer seiner Halbschwester zu verlassen. Die Anwesenheit
seiner Mutter flößte ihm Unbehagen ein, und das seit geraumer Zeit. Vor drei Tagen,
dem Todesdatum Egbertas, war alles noch ganz anders gewesen, und die Frage, wie
es dazu gekommen war, ließ ihn nicht mehr los.
Das Verhältnis zu seiner Mutter war immer gut
gewesen, viel besser als das ihrige zu Egberta, das von ständigen Querelen, lautstarken
Auseinandersetzungen und allerlei hässlichen Szenen geprägt gewesen war. Der Höhepunkt
davon, ein handfester Streit in der Nacht vor Egbertas Niederkunft, hatte ihn derart
angewidert, dass er schleunigst das Weite gesucht, sich in sein Studierzimmer geflüchtet
und erst kurz vor der Geburt, welche seiner Schwester zum Verhängnis wurde, wieder
daraus hervorgewagt hatte. Worum es dabei gegangen war, hatte er nicht mitbekommen,
nur so viel, dass der Grund wieder einmal sein Schwager gewesen war. Bermetter atmete
geräuschvoll aus. Der Herr Schwager – wieder einmal. Selten zuvor hatte er eine
derartige Antipathie gegen jemanden gehegt, und selten zuvor war sie derart berechtigt
gewesen. Die Frage war allerdings, aus welchem Grund Laurenz Egberta aus dem Weg
räumen sollte, ausgerechnet er, der er sich bereits die fettesten Pfründe weit und
breit unter den Nagel gerissen und seine Frau wie ein Schoßhündchen dressiert hatte.
Tuchscherer – ein Mörder? Mörder schon, aber, und das war der springende
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