Engel der Schatten - 02 - Emilia Jones
und
erkannte eine Frau mit rot glänzenden Locken. Michelle! An ihrer Seite ein dürrer,
hochgewachsener Mann. Er war so gewöhnlich menschlich, dass der Vampir angewidert die Lippen kräuselte. Am liebsten wäre er aus seinem Versteck gesprungen und diesem verdammten Typ direkt an die Kehle. Aber er musste sich zurückhalten.
„Das wäre wirklich nicht nötig gewesen – aber vielen Dank!“ Michelle schenkte ihm ein freundliches Lächeln
„Ach, das war doch selbstverständlich.“ Er winkte ab. „Ich konnte Sie doch nicht alleine nach Hause gehen lassen. Um diese Zeit. Man kann ja nie wissen, was für Verrückte sich nachts auf der Straße herumtreiben.“
Raoul fletschte die Zähne.
Michelle war dankbar für die ungewohnte Fürsorge. „Dann also morgen wieder?“
„Ja. 18 Uhr Arbeitsantritt … vielleicht auch später.“ Der Mann zwinkerte ihr zu. „Lassen Sie sich Zeit. Die Bar wird erst ab 20 Uhr richtig voll.“
Raoul wurde hellhörig. Eine Bar? Welche?
„Bis morgen also!“
„Ja, bis morgen!“
Daraufhin drehte der Mann sich um und ging. Michelle verschwand in ihrer Wohnung. Und Raoul lehnte an der kalten Steinwand und fragte sich, wie der Fremde es geschafft hatte, ihn durch seine bloße Anwesenheit zur Weißglut zu bringen.
Er würde es herausfinden. Schon in der nächsten Nacht.
Eine neue Bar
Nie hatte der Tag ihn geschmerzt, verbrachte er ihn doch in der dunklen Abgeschiedenheit des „Clubs Noir“. Fern vom Licht und der Sonne. Nichts als Schatten hüllten seinen Körper ein. Finstere Abgründe, in die er sich verkroch. In denen er für gewöhnlich seinen entspannenden Schlaf fand. An diesem Tag überschlugen sich Raouls Gedanken jedoch, sodass es ihm schwer fiel, die nötige Ruhe zu finden. Immer wieder rückte das Bild von Michelle und diesem Fremden in seinen Sinn. Raoul fühlte sich nicht nur gereizt, sondern regelrecht bedroht. Wie konnte sie vor ihm davonlaufen und sich dem nächst Besten an den Hals werfen? Einem Halbstarken!
Nie würde Raoul eine solche Zurückweisung akzeptieren. Er war ein mächtiger Vampir! Es gab keine Frau, deren Willen er nicht brechen konnte. Deren Leidenschaft er nicht entflammte. Auch Michelle würde ihm verfallen.
Schon bald.
Er verfluchte die Zeit, die ihm noch bis zum Anbruch der Nacht blieb. Unruhig warf er sich von einer Seite auf die andere. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden …
***
Endlich spürte Raoul, wie das Tageslicht schwand. Wie Phönix aus der Asche stieg der Vampir aus seinem Versteck – empor an die Oberfläche. Seine Haltung war steif, die Muskeln angespannt, und seine Augen funkelten wild in der aufkeimenden Dunkelheit. Trotz des wenigen Schlafes war er bereit für die Jagd.
Es zog ihn durch die Flure des Clubs, der zu dieser Stunde noch kein wildes Treiben beherbergte. Die Türen wurden gerade erst geöffnet. Bevor aber jemand hineingelangen konnte, stürmte Raoul hinaus. Zum dritten Mal folgte er nun dem Weg, der ihn zu Michelles Wohnung führte.
Dort angekommen, verharrte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite und blickte zu den Fenstern hinauf. Überall brannte Licht, und in einem von ihnen konnte
Raoul den wohlgeformten Schatten einer Frau erkennen.
„Michelle“, hauchte er ihren Namen.
Machte sie sich schick, um wieder in die Bar zu diesem fremden Mann zu gehen? Es hatte sich angehört, als würde sie dort arbeiten. Aber warum? An keiner anderen Stelle konnte sie ihr Geld so schnell und leicht verdienen, wie im „Club Noir“.
Im nächsten Augenblick erlosch das Licht in Michelles Zimmern, und kurz darauf öffnete sich auch schon die Haustür. Raoul verschmolz mit den Schatten. Er beobachtete Michelle aus seinem Versteck heraus – wie sie einen Blick in ihre Handtasche warf und den Sitz ihrer Kleidung überprüfte. Dann drehte sie sich einmal halb um ihre eigene Achse und sah in alle Richtungen, gerade so, als würde sie Raouls Anwesenheit spüren. Schließlich ging sie weiter.
Raoul ließ ihr einen kleinen Vorsprung, ehe er sich an ihre Fersen heftete. Zu seinem Glück bog sie in eine recht belebte Straße ein. So war es für ihn ein Leichtes, unauffällig zu bleiben.
Endlich steuerte Michelle auf eine grüne Holztür zu. Gezielt griff sie nach der Klinke und verschaffte sich Einlass.
„Chez Rafael“ prangte in goldenen Lettern auf einem Schild über der Tür. Es wirkte ein wenig altertümlich – wie ein Café für ältere Herrschaften, nicht wie eine Bar.
Lässig lehnte sich Raoul
Weitere Kostenlose Bücher