Engel der Schatten - 02 - Emilia Jones
stand sie schon wieder dort? Würde sie erneut schwach werden und ihren vollkommen aussichtslosen Sehnsüchten nachgeben?
Ein Abbild von Andrews lächelndem Gesicht drängte sich ihr vor Augen. Kaum hörbar flüsterte er ihren Namen in ihr Ohr. Er lockte sie. Er rief sie. Und sie folgte seinem Ruf. Sie machte sich frei von all ihren Bedenken und betrat die dunklen Flure vom „Club Noir“.
***
Gérard hob neugierig eine Augenbraue, als er Michelles unverwechselbare Gestalt entdeckte, die sich durch den Innenraum bis zu einem kaum einsehbaren Winkel stahl und sich dann dort in einen Sessel kauerte.
„Na, hallo, wen haben wir denn da?“ Gérard grinste boshaft.
Henry, einer der Vampire, die mit ihm an der Bar standen, folgte seinen Blicken.
„Wen meinst du? Michelle?“
„Du kennst sie?“
„Wer nicht?“
Gérard überraschte der offene Blick seines Freundes. Er hatte zwar gewusst, dass die Rothaarige keine Unbekannte im Club war, aber nicht damit gerechnet, über welch großen Bekanntheitsgrad sie anscheinend verfügte. Immerhin zog sie sich von allen zurück und verkaufte nur hin und wieder ihr Blut.
„Wie lange kennst du sie schon?“
„Ein paar Jahre.“ Henry wirkte so desinteressiert, als übte diese Frau keinerlei Reize auf ihn aus. „Sie hat sich immer nur mit den Ältesten abgegeben. Den Mächtigen.
Andrew und Louis zum Beispiel.“
„Hm.“ Gérard legte den Kopf schief. „Das ist mir neu.“
„Du bist ja auch noch nicht so lange hier. Dann wüsstest du, wie sie war.“
„Wie war sie denn?“
„Schamlos.“ Henry lachte dreckig auf. „Sie hätte dir gefallen.“ Nun klang er mit einem Mal wehmütig. Er stütze sich mit den Ellbogen am Thekenrand ab und warf seufzend einen langen Blick in Michelles Richtung. „Sie hätte uns allen gefallen. Aber, wie gesagt, sie hat sich nie mit uns Unwichtigen abgegeben.“
Einen langen Moment verharrte Gérard schweigend und musterte Michelle. Er verfolgte jede noch so winzige Bewegung von ihr mit gierigen Blicken – wie sie kurz mit den Augen zwinkerte oder sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr strich.
Dann schlich sich plötzlich eine Idee in seine Beobachtungen.
„Ich denke, es wird Zeit.“
„Wofür?“ Längst hatte Henry mit dem Thema „Michelle“ abgeschlossen. Er verstand nicht, was Gérard mit seiner Bemerkung meinte.
„Dass sie sich mit uns Unwichtigen abgibt.“
Etwas Herauforderndes lag in seiner Stimme. Als würde er zu einem Wettbewerb aufrufen. Und genau das war es auch, was ihm in den Sinn kam.
„Einer von uns sollte sich um ihre Gunst bemühen.“
Henry bedachte seinen Freund mit einem zweifelnden Blick.
„Ihre Gunst? Das hört sich an, als wärest du auf der Suche nach einem neuen Schoßhündchen – was hast du wirklich vor?“
„Eine Wette vielleicht?“
„Und der Gewinn? Michelle?“ Spott mischte sich in Henrys Stimme.
Gérard hingegen blieb ernst. „Nein. Freie Wahl an Mädchen wäre wohl ein besserer Anreiz.“
Lässig lehnte er sich mit einem Arm auf die Theke und sah den anderen Vampir wissend an. „Ist es nicht so, dass du schon lange ein Auge auf Marie geworfen hast? Die kleine blonde Spielgefährtin von unserem Raoul? Würde es dir nicht gefallen, wenn sie zur Abwechslung auch mal deine Bedürfnisse befriedigt?“
Es war ein simples, aber dennoch wirksames Argument. Henry begehrte Marie seit
ihrer ersten Begegnung. Ihre Schönheit und Anmut brachten ihn an die Abgründe seines Verstandes. Und jede Nacht spürte er die Eifersucht wie ein grausames Monstrum, das in seinem Inneren wütete. Denn Marie schenkte ihre Dienste einem anderen Vampir. Raoul. Und nur Raoul.
Trotz aller animalischer Instinkte gab es einen Ehrenkodex unter den Vampiren. Niemand würde einem anderen „sein Mädchen“ wegnehmen.
Der Gedanke – dass es mit einer obskuren Wette zu ändern wäre – gefiel Henry.
„Raoul sollte es tun!“ Er fixierte den anderen Vampir mit einem stechenden Blick.
„Ich sollte was tun?“ Raoul hob eine Augenbraue, war jedoch nur halb bei der Sache. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr der spärlich bekleideten Marie, die sich ihm mit einem äußerst erotischen Tanz darbot.
„Michelle“, sagte Henry und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Rothaarigen. Sie saß noch immer in der dunklen Nische und glaubte sich unbeobachtet.
„Michelle“, wiederholte Raoul gelangweilt. Er kannte sie vom Sehen, aber er interessierte sich nicht für sie. Zierliche Blondinen
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