Engel der Schuld Roman
dem Schreibtisch ein.
»Wir haben vollstes Verständnis, Ellen«, sagte Bill Glendenning großzügig.
Der Generalstaatsanwalt saß in einem der Besucherstühle. Die Augen hinter der Brille hätte man fälschlicherweise leicht für gütig halten können, aber Ellen wußte es besser. Bill Glendenning war ein gescheiter, machthungriger Mann. Sie bewunderte und respektierte ihn, achtete aber darauf, daß die Bewunderung von Vernunft gemäßigt wurde. Er war ganz oben, und er war nicht durch Güte dorthin gekommen.
Rudy scharwenzelte um ihn herum, zu aufgedreht, um sich zu setzen, selbst wenn es einen Stuhl für ihn gegeben hätte. Er konnte seine Aufregung darüber, daß Glendenning gleich zwei Tage hintereinander in ihrem Büro auftauchte, nicht bezähmen und lief auf und ab. Sein Gesicht glühte vor Eifer oder Fieber. Er zog ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich die Stirn ab.
»Ich bin mir sicher, daß ich Ihnen das nicht zu sagen brauche, Ellen, aber in diesem Fall haben wir es mit einer sehr ungewöhnlichen Situation zu tun«, sagte Glendenning mit väterlicher Stimme.
»Nein, das brauchen Sie mir nicht zu sagen.« Das leutselige Politikergehabe ärgerte sie, aber sie gab sich Mühe, es nicht zu zeigen. Sie erhob sich aus ihrem Stuhl, um sich nicht wie ein Kind vorzukommen, dem man eine Lektion erteilt. Ganz beiläufig ging sie um das Ende des Schreibtischs herum, lehnte eine Hüfte dagegen und verschränkte locker die Arme.
»Die Entführung selbst war eine Verirrung«, fuhr Glendenning fort. »Solche Dinge passieren in Deer Lake nicht – zumindest möchten wir das alle glauben. Die Tatsache, daß es dennoch hier passiert ist, hat die Aufmerksamkeit der ganzen Nation auf uns gelenkt. Man sieht das als Metapher für die Zeiten, in denen wir leben. Nicht wahr, Jay?«
Jay blinzelte, als er seinen Namen hörte, und erwachte aus der Trance, in die ihn der Anblick von Ellen Norths Beinen versetzt hatte. Die Lady hatte wirklich erstaunliche Beine – unendlich viel mehr seiner Aufmerksamkeit würdig als Bill Glendennings sinnloses Dozieren. Der Generalstaatsanwalt war nur hier, um sich zu profilieren, schlicht und einfach. Er war sich sehr wohl bewußt, daß Jays Name momentan brandheiß war, und wie jeder Politiker genoß es Bill, in dieser Wärme zu baden, wenn es möglich war. Er wollte mitmischen, alle Lorbeeren einheimsen und soviel Publicity wie möglich bekommen. Eine Metapher f ü r die Zeiten, in denen wir leben.
»Das ist eine Tatsache, Sir.« Jay nickte.
»Diese Story ist größer als Deer Lake, größer als wir alle«, fuhr Glendenning fort, ein schamloses Plagiat der Worte, mit denen Jay ihn vor zwei Tagen bei Whiskey und Zigarren betört hatte. »Ellen, Sie begreifen das, das ist zum Teil der Grund dafür, daß Rudy Ihnen diesen Fall anvertraut hat.«
Rudy strahlte, als sein Name fiel, aber höchstens eine Sekunde lang.
»Mir wurde beigebracht, alle Fälle auf gleicher Ebene zu behandeln«, sagte Ellen. »Ich werde diesen Fall nicht wegen der anderen Umstände anders angehen. Auch nicht deshalb, weil der Mann, der angeklagt wird, jemand ist, den keiner je verdächtigt hätte.«
Ungeduld blitzte hinter Glendennings Roosevelt-Brille auf.
»Ich mache meine Arbeit«, fuhr Ellen ruhig fort. »Und die ist, Garrett Wright hinter Gitter zu bringen. Ich kann es mir nicht leisten, mich von diesem Ziel abbringen oder mich von einem größeren Zusammenhang ablenken zu lassen. Ich kann die Leute nicht daran hindern, sich für diesen Fall zu interessieren oder ihn als ›Metapher für unsere Zeit‹ zu sehen, trotzdem kann ich das nicht zu einem Teil meiner Tagesordnung machen.«
Rudy verfärbte sich vom Hals aufwärts burgunderrot. Er stand hinter Glendenning, und seine Augen traten aus den Höhlen, als würde ihn jemand würgen. »Aber Ellen . . .«
»Sie hat absolut recht«, sagte Jay und mußte innerlich über die Reaktionen grinsen. Ellens Ausdruck war mißtrauisch, Glendenning versuchte, sich wieder zu sammeln. Hinter ihm täuschte Rudy Stovich einen Hustenanfall vor. »Justitia ist blind, sie versucht nicht, ihre beste Seite vor der Kamera zu präsentieren.«
»Genau das wollte ich auch sagen«, sagte Glendenning und beugte sich vertraulich zu Jay. »Das ist genau der Grund, warum Ellen die Richtige ist, diesen Fall vor Gericht zu bringen.«
»Deshalb habe ich sie ausgesucht«, warf Rudy ein, hakte einen Finger in seinen Kragen und zerrte an der imaginären Schlinge um
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