Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
Tisch, baumelte mit den Beinen und verspeiste mein Frühstück, als ich aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick auf Christopher erhaschte, der an diesem Tag das Aussehen eines etwa Zwölfjährigen hatte. Er lief quer durch den Raum Richtung
Ladentür, während meine Mutter gerade mit ein paar Scheiben Toast hereinkam. Sie strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Lorna, in der hinteren Werkstatt, unter Vaters Arbeitsbank, wartet eine Überraschung auf dich!«
Aufgeregt hopste ich vom Stuhl und folgte Christopher. Er hielt geradewegs durch den Laden auf die dunkle Werkstatt zu. Dort drinnen war es derart finster, dass ich erst innehalten und meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen musste. Doch war Christopher so etwas wie eine Lichtquelle für mich, denn er verbreitete ein sanft schimmerndes Leuchten, das mir den Weg durch die mit allem Möglichen vollgestellte Werkstatt wies. Er rief: »Die Katze hat Junge bekommen!« Und tatsächlich konnte ich – dank Christophers Licht – unter der Werkbank vier winzige Katzenbabys ausmachen. Drei davon kohlrabenschwarz, das vierte schwarz-weiß, sie waren einfach allerliebst, so weich und zart. Katzenmutter Blackie kletterte aus der Kiste, streckte sich und sprang durch das kleine Fenster hinaus in den Garten. Ich rannte hinter ihr her und rief Christopher zu, er solle auch hinauskommen, doch er blieb drinnen – wie immer.
Ich ging zurück in die Werkstatt und fragte Christopher: »Weshalb kommst du nie mit raus?«
Mit einer Geste, als wolle er mich trösten, ergriff er meine Hand – eine Berührung, die ich liebte – und unsere Hände verschmolzen wieder. Es wirkte wie ein geheimer Zauber: Ich fühlte mich geborgen und glücklich.
»Lorna, wenn Babys sterben, bleiben ihre Seelen bei ihren Müttern, so lange, wie sie dort gebraucht werden. Deshalb bleibe ich hier bei Mam. Wenn ich mit dir hinausginge, zerrisse ich all die Bänder der Erinnerung – und das werde ich nicht tun!«
Ich wusste, wovon er sprach. Meine Mutter hatte ihm so viel Liebe geschenkt: All die Erinnerungen an ihre Schwangerschaft, als sie ihn in sich getragen hatte, die Geburt, das Glück und die Freude, ihn in ihren Armen zu
halten und ihn dann mit nach Hause zu nehmen – obgleich sie damals bereits gespürt hatte, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war, ganz gleich, was die Ärzte ihr gesagt hatten. Mam verbrachte zu Hause ein paar kostbare Wochen mit Christopher, bevor er starb, und er erzählte mir von der Liebe, die sie ihm so reichlich geschenkt hatte und die er ihr nun zurückgab.
Deshalb blieb der Geist meines Bruders im Haus, er verließ es nicht ein einziges Mal, bis wir dem kleinen Fahrradladen in Old Kilmainham für immer Lebewohl sagten. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter bereit, meinen Bruder loszulassen und fühlte sich stark genug, auf ihrem Lebensweg weiterzugehen.
Immer wenn ich einen Engel sehe, habe ich den Wunsch innezuhalten, ihn genau zu betrachten und das Gefühl der Gegenwart einer ungeheuren Kraft. In der Jugend erschienen mir die Engel immer in Menschengestalt, was mir den Umgang mit ihnen erleichterte – doch das ist heute längst nicht mehr notwendig. Die Engel, die ich sehe, tragen nicht immer Flügel, doch wenn, verblüffen mich oftmals deren Formen: Mitunter gleichen sie Flammen, haben aber dennoch eine klare Kontur und Festigkeit; manche sind gefiedert. Die Flügel eines »meiner« Engel waren derart lang, schmal und spitz, dass ich ihn gerne gebeten hätte, sie einmal auszubreiten.
Erscheinen Engel in Menschengestalt – mit oder ohne Flügel –, bilden die Augen eines ihrer faszinierendsten Merkmale, denn Engelsaugen unterscheiden sich stark von den unseren: Sie sind so bewusst, so voller Leben, Licht und Liebe – als enthielten sie die Essenz des Lebens selbst –, ihr Strahlen erfüllt einen ganz und gar.
Niemals habe ich den Fuß eines Engels den Boden berühren sehen: Wenn ein Engel auf mich zukommt, nehme ich eine Art »Energiepuffer« zwischen dem Boden
und seinen Füßen wahr. Manchmal ist er nur fadendünn, dann wieder bauscht er sich kissenförmig zwischen der Erde und dem Engel auf und kann sogar in die Erde hineinreichen.
Schon in meiner frühen Jugend gab es einen bestimmten Engel, der mir viele, viele Male erschien. Zum ersten Mal begegnete ich ihm im Schlafzimmer: Er stand in einer Ecke und sagte nur: »Lorna.« Einerseits sah er aus wie die anderen Engel auch, andererseits unterschied er sich zugleich deutlich: So leuchtete er stärker
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