Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
der Wand. Jetzt hatte sie die Grenze überschritten.
„Wenn ich Ihre Hilfe bei dem benötige, was ich gerade tue, dann melde ich mich.“
„Okay … gern … schönen Abend …“
„Ihnen auch.“
Ein paar Minuten, nachdem er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, begann Bergmann seinen Fernseher zu vermissen. Der war vier Wochen zuvor ohne Vorwarnung erloschen, während der nächtlichen Wiederholung der Barbara Karlich Show; sensibles Gerät, hatte Schäfer gemeint, was Bergmann damals wie nun in Gedanken daran ein schmales Lächeln entlockte; sensibel war wohl der falsche Ausdruck für einen fast neuen Flat Screen, der nicht einmal den Ablauf der Garantie abgewartet hatte, um den Geist aufzugeben; wirkliche Sensibilität würde sich wohl auch darin äußern, zu erkennen, dass der Mensch manchmal gerade das Stumpfe braucht, um der Wirklichkeit die bedrohliche Schärfe oder die schneidende Einsamkeit zu nehmen. Dem widersprechend fiel ein fast täglich stattfindender Dialog zwischen Bergmann und Leitner so aus:
„Hast du gestern XY gesehen?“
„Nein, ich habe keinen Fernseher …“
„Noch immer nicht?“
„Nein … kommt eh nur Mist.“
Dieser Mist, der ihm jetzt abging; der Stumpfsinn als Zusatzausstattung des modernen Menschen, als evolutionäre Modifikation, die einen wahlweise an die nächste Bar oder vor den Fernseher trieb, sinnierte Bergmann, während er auf einem Hocker in der Wohnküche saß und darauf wartete, dass das Telefon läutete. Eigentlich wäre Lisa dran im Zirkelsystem der abendlichen Schäfer’schen Familienanrufe. Punkt acht war es so weit.
„Bergmann … Hallo Lisa … Mir geht’s gut, danke … Nein, leider nicht … Doch, ich würde es dir sagen, keine Sorge, aber wir haben wirklich nichts … Wo? … Am Klopeiner See … Aha … glaubst du ihm? … Wann soll das gewesen sein? … Und was war das genau? … Zur Erweiterung der spirituellen Wahrnehmungsfähigkeit … klingt nicht gerade nach deinem Onkel … Ich werde mich darum kümmern … Versprochen … Ja, melde dich, dann treffen wir uns auf einen Kaffee, gern … Dir auch …“
Er legte das Telefon beiseite, ging zum Kühlschrank und nahm ein Fertiggericht aus dem Eisfach. Mit Lisa, Schäfers Nichte, telefonierte er am liebsten; sie hatte nicht diesen mütterlichen Tonfall, der zwischen Verzweiflung, Demut und unausgesprochenem Vorwurf oszillierte, sie wollte wissen, ob es etwas Neues über ihren Onkel gab, und übermittelte Bergmann jede noch so kleine Information, von der sie glaubte, dass sie ihm nützlich sein könnte bei Schäfers Auffindung. Ein Seminar in Kärnten, bei dem es um spirituellen Zugewinn gegangen wäre, hätte Schäfer laut eines ebenfalls anwesenden Freundes von Lisa im April besucht. Er würde es überprüfen; wie all die bruchstückhaften Informationen, die bei Vermisstenfällen oder unaufgeklärten Verbrechen eingingen. Sie hatten noch keine Pressemitteilung herausgegeben, hatten die Medien gebeten, noch ein paar Tage stillzuhalten; vorerst war der abgängige Major Schäfer nur in der Fahndungsliste auf der Website des Bundeskriminalamts publik – ein Tummelplatz für Hobbydetektive und Verbrechens-Groupies, die sich an den Bildern nicht identifizierter Leichen aufgeilten. Dementsprechend niedrig war auch die Informationsdichte der Hinweise, die über diesen Kanal eintrafen – sie glich den Tauben, die sich tagsüber auf das Fenstersims vor ihrem Büro setzten, den schmutzigen Viechern, unter denen vielleicht einmal im Monat eine nützliche Brieftaube war. Wenn man Zeit und Lust hatte, konnte man ja jeden Taubenfuß einer genauen Betrachtung unterziehen, viel Spaß dabei.
6.
Soll ich dir zürnen für das, was du mir genommen? Oder dankbar sein für das, was mir geblieben? Eine kurze Phase spontaner Heiterkeit folgte dem Morgengebet, das er zu Sonnenaufgang begonnen und fast eine Stunde fortgesetzt hatte. Tief eingeprägte Muster waren dabei zum Vorschein gekommen: Vater unser, der du bist im Himmel … Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt … doch sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Erst noch stockend, dann mit zunehmender Sicherheit betete er die Mantras ab, die er als Ministrant unzählige Male wiederholt hatte. Damals wie in Trance, das Ende der Messe herbei betend (wann kommt endlich „Der Friede des Herrn sei alle Zeit mit euch“), doch jetzt war es ihm ein Geländer, die einzige Spur, die sich nicht sofort verflüchtigte, und ob ich
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