Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Am Vortag hatte er am Fuße eines Felshangs eine wuchtige Lärche entdeckt, deren tiefste Äste nicht einmal einen Meter über dem Boden wuchsen, einen Radius von fast zwei Metern einnahmen und so rund um den Stamm einen Hohlraum bildeten, der als sicherer und halbwegs bequemer Schlafplatz erschien. Als die Nacht hereinbrach, schlug er mit der Waffe, die er immer noch bei sich trug, eine Kerbe in den Stamm der Föhre. Er wollte sicher sein, wie viele Tage und Nächte er in diesem Wald verbrachte. Drei bisher, meinte er zu wissen. Doch schon der vorige bestand nur noch aus Fragmenten, aus den Gerüchen von Pilzen und moosigem Wasser, aus Erinnerungsblitzen vermischt mit nebulösen Traumstücken, aus einem unkontrollierten Ineinanderfließen all dessen, sodass er keinem Ereignis oder Gefühl Zeit oder Ort zuzuschreiben imstande war. Schlimmer noch als diese Geistesverwirrung empfand er jedoch, dass der Körper, den er an sich wahrnahm, nicht zu der Person passte, die er zu sein glaubte. Seine Handrücken waren behaart, ebenso sein Oberkörper, auf dem er vom Brustbein bis hinab zum Schambein einen dichten Haarteppich in Form einer Sanduhr wahrnahm. Und wenn es ihm ein paar Sekunden gelang, aus einem angespannten Gedanken einen logischen Schluss für diesen Sachverhalt zu ziehen, löste er sich auf, noch bevor er ihn seinem Verstand einschreiben konnte. Ich habe meinen Verstand verloren, sagte er sich, ohne zu wissen, was das bedeutete; er gab wieder auf und ließ sich in den Strom der ungeordneten Assoziationen und Bilder fallen, die wovon auch immer ausgelöst wurden. Deshalb auch das Beten, in das er regelmäßig verfiel. Wenn er über einer kleinen Oase aus Sauerklee kniete, hielt er inne und rezitierte einen Psalm. Dann tauchte das Bild von Pfarrer Danninger auf, dazu der Geruch von modrigem Marmor, Weihrauch und brennenden Kerzen, kurz entstand so eine friedvolle und angstfreie Stille, in die er sich schmiegte wie ein müdes Baby an die Brust seiner Mutter.
7.
Natürlich war Schäfers Therapeut nicht begeistert, als Bergmann kurz nach sieben anrief und ihn ersuchte, noch vor der Arbeit auf ein kurzes Gespräch vorbeikommen zu dürfen. Aber „ungelegen“ war kein Argument, das der Chefinspektor auch nur eine Sekunde lang ernst nehmen konnte – dagegen musste er auf der Klaviatur seiner Überredungskünste gerade einmal den kleinen Finger einsetzen, den sanften Gewissenskitzler für die gesetzestreuen Bürger, der sie daran erinnerte, dass wohl jeder, der um das Engagement des Majors im Dienste der Republik Bescheid wusste, nur allzu bereitwillig et cetera. Den schon zuckenden Zeigefinger, der den Therapeuten darauf stoßen würde, dass er in einem begehrten Vertragsverhältnis mit dem Innenministerium zur Unterstützung von Exekutivbeamten in Belastungssituationen stünde, brauchte Bergmann gar nicht mehr.
Also war er um halb acht in der Praxis des Therapeuten, setzte sich in den Stuhl, in dem Schäfer Woche für Woche seine Verzweiflung durchgegangen war, und schlug sein Notizbuch auf.
„Das ist ganz ungewohnt … dass hier jemand mitschreibt.“
„Wollen wir Platz tauschen?“
„Nein, nein“, der Arzt lachte, „über mich werden Sie ja wohl nichts wissen wollen …“
„Ach, das weiß man im Vorhinein nie“, erwiderte Bergmann, ohne sein Gegenüber anzusehen.
„Wie meinen Sie das?“
„Nur, dass man vorher nie weiß, wo ein Gespräch hinführt … wir könnten uns zum Beispiel über den Stress unterhalten, den unsere Berufe verursachen, und dann sagen Sie wie nebenbei, dass Sie zum Glück ein kleines Häuschen am Attersee haben, wo Sie entspannen können …“
„Dafür reicht es leider nicht ganz …“
„Na ja, wem sagen Sie das … aber wissen wollte ich eigentlich, ob Major Schäfer einmal mit Ihnen von so einem Entspannungsort gesprochen hat, wo er gern wäre …“
„Hm … allgemein gehalten, ja: Natur, Sommer, Wasser, sanfte Berge, Stille …“
„Tirol, meinen Sie …“
„Nicht unbedingt … nein, Heimweh hatte … Sie wissen schon, dass ich über meine Patienten nicht reden darf, oder?“
„Natürlich … wir reden ja nicht über Major Schäfer, sondern allgemein über jemanden in einer Situation, die einer Ihrer Fallgeschichten entspricht …“
„Verstehe … ich habe da einen Freund, der Potenzprobleme hat …“
„Was?“
„Vergessen Sie’s
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