Engelsgesang
jedenfalls am Anfang. Ihr krampfhaftes Lächeln hatte ihn dazu gezwungen. Wie ein Schatten war sie durch das Haus gehuscht, blass und beinah unsichtbar. Sie hatte nicht mehr mit ihm und seiner Schwester gespielt, verließ kaum noch ihr Zimmer … und dann war sie tot gewesen … einfach so …
Die Sirene eines Polizeiautos schreckte Ángel aus seinen düsteren Gedanken auf. Als er sich umsah, erschien ihm die Stadt fremd. Die kalte Morgenluft kroch durch seine klamme Kleidung und ließ ihn schaudern.
Nun war er hier, was jetzt? Wo sollte er hin?
Er lenkte seine Schritte zu einem Selbstbedienungsrestaurant, das zu dieser frühen Stunde schon geöffnet hatte.
„Ich hätte gern einen Kaffee“, sagte er zu dem verschlafenen Mädchen an der Kasse. Wortlos füllte sie ihm einen Pappbecher mit der dampfenden schwarzen Flüssigkeit. Ángel griff nach dem Tablett und suchte sich einen kleinen Tisch am Fenster. Er würde erst einmal warten, bis seine Hose einigermaßen trocken war. Jetzt am Morgen, wo es noch kühl war, hatte er keine Lust in den feuchten Klamotten durch die Straßen zu laufen.
Er stützte seinen Kopf in die Hände. Er wusste noch nicht, wie es weitergehen sollte. Sein Plan war, von zu Hause wegzulaufen und nach München zu fahren. Das hatte er gemacht. … und jetzt? Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung der nächste Schritt gehen sollte. Aber eins wusste er, auf keinen Fall durfte er zurück. Es würde sich schon etwas finden.
„Ich krieg dich, mein Schöner. Erst werd ich dich knacken, ganz langsam, und dann werd ich dich auseinandernehmen, Stück für Stück, bis aus dir genau das geworden ist, was ich will …“
Ángel fuhr mit einem Angstschrei hoch. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Augen irrten panisch umher, und er brauchte eine Weile bis er wieder wusste, wo er war. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich die Haare aus dem Gesicht. Erleichtert atmete er auf. Die grausame Stimme, die er soeben noch zu hören geglaubt hatte, war eindeutig aus einem Albtraum zu ihm herübergeschwappt.
Ein stämmiger Mann mit weißem Hemd und blauer Krawatte stand vor ihm, das Mädchen von der Kasse dahinter. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und beide sahen missmutig auf ihn herab.
„Ey du, wenn du schlafen willst, geh nach Hause. Das hier ist kein Hotel.“
Ángel fuhr sich über die Augen. „Entschuldigung, ich muss kurz eingenickt sein.“
„’Kurz’ nenn ich was anderes“, entgegnete der Mann und baute sich noch ein bisschen breiter vor ihm auf. „Ich hoffe, du hast noch einen schönen Tag, aber nicht mehr hier.“ Unnachgiebig sahen seine Augen auf ihn herab.
Ángels Blick wanderte zur Uhr an der Wand. Er konnte es nicht fassen, er hatte wirklich zwei Stunden verschlafen.
„Perdón“, wie immer, wenn er nervös war, verfiel er ins Spanische. „Es war nicht meine Absicht.“ Er griff nach seiner Tasche und sprang auf. Dabei kippte der Stuhl hinter ihm um und fiel mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden.
„Verschwinde, du Penner“, schimpfte der Mann und wies mit einer ausladenden Geste zur Tür. Ángel fasste mit der anderen Hand nach seinem Mantel und stolperte zum Ausgang. Er war sich bewusst, dass dieser Abgang den Eindruck, den er zu machen schien, nur bestätigte. Übernächtigt, mit zerschlagenem Gesicht wirkte er ganz gewiss wie ein Obdachloser. Schnell lief er um die nächste Ecke und setzte die Tasche ab. Mit den Fingern beider Hände fuhr er sich durch die nun zwar trockenen, aber störrischen Haare und versuchte sie zu glätten. Dann zog er den Mantel über und schulterte seine Tasche.
Planlos lief er umher und hatte auf diese Weise die gesamte Münchner Innenstadt kennen gelernt: den Marienplatz mit dem imposanten Rathaus, den Viktualienmarkt, auf dem er einen Apfel hatte mitgehen lassen. Er war durch die Residenz und den Hofgarten gelaufen. Wenn er ein Tourist gewesen wäre, hätte er stolz auf sich sein können. Doch er war kein Tourist, und wo er jetzt hinsollte, wusste er noch immer nicht.
Irgendwann hatte er eine Pause im Frauendom gemacht und sich in eine der Bankreihen gesetzt. Schwerer Weihrauchgeruch umfing ihn und das leise Gemurmel der Besucher beruhigte seine überspannten Nerven. Nach einer Weile schloss er die Augen und einer inneren Eingebung folgend, faltete er seine Hände zum Gebet.
Er hatte schon lange nicht mehr gebetet. Seit seine Mutter an Herzversagen gestorben war, hatte er es vermieden. Erst jetzt, nach so
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