Engelsgesang
Küchenzeile. Unter seinem Hochbett stand ein Schreibtisch. Ein Regal nahm die Breitseite einer Wand ein. Ansonsten bestand das restliche Inventar aus diversen Instrumenten. Auf den ersten Blick sah man ein Klavier, ein Schlagzeug, zwei weitere Gitarren sowie diverse Trommeln.
„Willkommen in meinem Reich“, so hatte Wolfgang gestern Nacht den verschüchterten Jungen bei sich empfangen. Wenn man ihn gefragt hätte, warum er einen wildfremden Menschen mit zu sich nach Hause nahm, hätte er auf seine große Hilfsbereitschaft und Menschenliebe hingewiesen. Man konnte so einen jungen Menschen, dem eindeutig etwas Schwerwiegendes zugestoßen war, doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Dass er geschlagen worden war, sah man eindeutig. Und dass es nicht nur eine normale Schlägerei unter Jugendlichen gewesen sein konnte, zeigte das verängstigte Auftreten des Jungen. Er schien innerlich zu zittern. Auch sonst war sein Aufzug mehr als sonderbar. Nicht nur die halbleere, wie in Eile gepackte Reisetasche wies darauf hin.
Aber das alles war nicht der eigentliche Grund, weshalb Wolfgang ihm geholfen hatte. Doch die Wahrheit hätte er nie in Worte fassen können. Das Bild, wie der Junge an der Bar saß, hatte eine Seite in ihm berührt, die er verleugnete. Stattdessen glaubte er weiterhin an seine übergroße Nächstenliebe, breitete auf dem Teppich vor dem Fenster eine Decke aus und legte eine weitere Decke darüber.
„Mehr Luxus kann ich dir leider nicht bieten.“
„Ist schon okay“, erwiderte Ángel und schwankte, als würde er jeden Moment vor Müdigkeit umfallen. „Ich bin dir wirklich dankbar.“
„Fühl dich wie zu Hause“, sagte Wolfgang und kletterte in sein Hochbett. „Und träum was schönes. Gute Nacht.“
Leises Klappern weckte Ángel am nächsten Morgen aus einem ohnmachtsähnlichen Schlaf. Kaffeeduft stieg ihm in die Nase.
„Guten Morgen“, krähte Wolfgang fröhlich, als sein Gast sich verschlafen aufsetzte. „Gut geschlafen?“
„Wie ein Toter.“ Ángel kroch unter der Decke hervor und ging ins Badezimmer. Den Blick, den Wolfgang über seinen, nur mit einem Slip bekleideten Körper gleiten ließ, nahm er in seinem schlaftrunkenen Zustand nicht wahr.
„Sag mal, Wolfgang“, begann Ángel, als sie bei einer Tasse Kaffee auf Sitzkissen an dem niedrigen Tisch saßen, „kannst du mir sagen, wie ich auf die Schnelle etwas Geld verdienen kann?“
Wolfgang sah ihn abschätzend an. „Hatte ich mit meiner Vermutung also doch Recht? Du bist von zu Hause abgehauen.“ Das war keine Frage, eher eine Feststellung, bei der Ángel seinen Blick fest auf die Tasse in seinen Händen heftete. Diese Geste war Antwort genug.
„Ist schon okay, ich frage nicht weiter. Du wirst sicher deine Gründe haben. Übrigens, ich glaube, du hast momentan eine Glückssträhne. Ich mache dir nämlich noch ein Angebot.“
Ángel hob vorsichtig den Blick.
„Du kannst bei mir schlafen, bis du selber über die Runden kommst.“
„Das … das nehme ich gern an. Ich … ich weiß nämlich wirklich nicht, wo ich hin soll …“, sagte Ángel stockend.
„Gut, dann ist das ja aus der Welt. Und wegen dem Geld …“, Wolfgang sah kurz aus dem Fenster, so als überlegte er, ob er die nächsten Worte aussprechen sollte. „Ich weiß nicht, was du davon hältst … aber die Kunstakademie ist ständig auf der Suche nach Aktmodellen. Du verdienst zwar nicht viel, bekommst das Geld aber bar auf die Hand.“
„Kunstakademie?“
„Ja, du weißt schon … zeichnen, malen, bildhauern … die brauchen immer Modelle. Geh doch einfach mal hin“, sagte Wolfgang und sah Ángel an. „Natürlich nur, wenn du kein Problem mit Nacktheit hast. Dann wäre das nicht das Richtige für dich, und du solltest dich lieber umschauen, ob du irgendwo in einem Supermarkt was findest.“
„Nein, nein, das ist es nicht“, beteuerte Ángel sofort. „Es ist ein toller Vorschlag. Nackt sein ist kein Problem für mich, na ja … jedenfalls nicht mehr als für andere Menschen wohl auch. Ich denke, ich werde es heute gleich ausprobieren. Ich will dir auf keinen Fall auf der Tasche liegen. Das wäre mir sehr unangenehm.“
„Das freut mich zu hören, mir wäre das nämlich auch unangenehm.“ Wolfgang lachte und strich sich über seine kurzen Haare. „Na gut, ich erzähl dir, wie du hinkommst, dann muss ich dich leider rauswerfen. Gleich kommt ein Gitarrenschüler.“
„Ich verstehe“, entgegnete Ángel und trank eilig seinen Kaffee
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