Engelsgesang
den Kopf zwischen die Schultern und trank den Rest seines Bieres aus. Am liebsten würde er jetzt aufstehen und gehen. Ganz kurz zögerte er bei dem Gedanken ‚wohin’?
„Noch eins?“ fragte der Barmann und zapfte ihm schon ein neues Bier. Der Gitarrist begann wieder zu spielen und Ángel hatte Zeit darüber nachzugrübeln, wieso sich diese Musik nicht Flamenco nannte. Zu einem zufriedenstellenden Ergebnis kam er dabei nicht.
Als die Musik irgendwann verstummte und die Bar sich langsam leerte, ging Ángel zur Toilette. Drei Bier waren eindeutig zu viel. Er spürte sie nicht nur in seinen Beinen, die seltsam gefühllos waren, sondern auch in seinem Kopf. Sein Blick war nicht mehr ganz so klar, aber er war sich sicher, dass er nachher umso besser schlafen würde. Egal, wo das sein sollte. Als er seine Tasche holen wollte, saß der Gitarrist wieder an der Bar. Ángel versuchte möglichst unsichtbar an ihm vorbeizugehen. Er wollte ihn nicht noch einmal verärgern und eine erniedrigende Rüge einstecken.
„He, Junge!“
Ángel zuckte bei diesen Worten zusammen.
„Es tut mir Leid wegen vorhin.“ Der Gitarrist drehte sich ihm zu. „Ich bin wohl ein bisschen zu hart mit dir gewesen. Entschuldige! Weißt du, vor kurzem hat mich erst jemand wegen meiner Pseudo-Flamenco Musik beschimpft. Ich reagiere bei diesem Thema einfach etwas empfindlich.“
„So war es nicht gemeint.“
„Ich weiß, dass es ein Kompliment sein sollte.“ Der Gitarrist reichte ihm die Hand. „Wolfgang.“
Ángel ergriff sie. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen.“
„Sag DU zu mir. - Und?“
„Und was?“, Ángel sah ihn verwirrt an.
„Hast du auch einen Namen?“
„Ángel“, entgegnete Ángel schnell und kam sich furchtbar unbeholfen vor.
„An… was?“
„A-n-c-h-e-l“, er sprach seinen Namen überdeutlich aus. „Die spanische Form von Angel.“
„Aha, da waren deine Eltern aber sehr fantasievoll.“
„Meine Mutter …“
„Ja, ja, ich weiß“, unterbrach ihn Wolfgang. „Sie kam aus Spanien.“
„Genau“, antwortete Ángel und schlug die Augen nieder.
„Sag mal, A-ngel.“ Wolfgang benutzte die englische Aussprache seines Namens und dehnte sie übertrieben. „Ich nenn dich einfach Mal so, ich hoffe du hast nichts dagegen. Angel - passt ja ganz gut zu einem blond gelockten Jüngling wie dir.“ Er kicherte leise und Ángel zog seine Schultern noch ein Stück höher.
„Sag mal, Angel, wie alt bist du eigentlich?“
„Wieso?“ Ángel, der gerade noch vor sich auf den Fußboden gestarrt hatte, hob erschrocken den Kopf.
„Na ja“, Wolfgang wies auf die Uhr, die hinter der Bar hing. „Zwei Uhr. Hast du morgen keine Schule?“
„Ich bin neunzehn, ich geh nicht mehr in die Schule“, log Ángel.
„Ach so. Du hängst also immer so spät in Schwulenbars rum?“
„Schwulenbars?“
Wolfgang lachte auf. „Keine Angst, sind auch nur Menschen, und ich gehöre nicht dazu, ich bin nur der Musiker.“
„Nein, ich … ich meinte …“ stotterte der Junge.
„Lass gut sein, Angel. Und? Was machst du so spät noch in einer Bar?“
„Was trinken.“
„Natürlich.“ Wolfgang ließ nicht locker. „Und dann?“
„Dann gehe ich nach Hause.“ Ángel senkte seinen Blick wieder und fingerte nervös an einem Knopf seines zu großen Mantels herum.
„Nach Hause? Und das ist die Wahrheit? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Sag! Was wirst du jetzt, mitten in der Nacht mit einer Reisetasche unter dem Arm machen?“, bohrte Wolfgang weiter.
„Ich … ich werde mir einen dunklen Hauseingang zum Schlafen suchen …“, sagte Ángel leise.
„Das hatte ich mir doch gedacht. Kannst oder willst du nicht nach Hause?“
„Beides“, antwortete Ángel fast unhörbar.
„Hat sicher was mit deinem hübsch zugerichteten Gesicht zu tun?“
Ángel sank noch etwas mehr zusammen, bis sein Haar sein Antlitz wie einen Vorhang bedeckte.
„Schon gut, Junge. Keine Sorge. Immerhin war ich auch mal jung. Ich mach dir ein Angebot: Ich biete dir eine Übernachtungsmöglichkeit auf meinem Teppich und einen Kaffee zum Frühstück an. Wie wär’s damit?“
Ángel hob vorsichtig den Kopf. „Wirklich?“
„Ja. Aber nur unter einer Bedingung.“
Misstrauisch lugte Ángel zwischen den Strähnen seines Haars hervor. „Welche?“
Wolfgang stimmte ein kicherndes Lachen an. „Dass du meine Musik nie mehr Flamenco nennst.“
3.
3.
Wolfgangs Wohnung war ein Zimmer mit Bad und einer winzigen
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