Engelslied
auf.
Aufgeschreckt schaute Elena hinab: Im Gras lag eine blutüberströmte Taube. »Das arme Ding!« Soweit sie es erkennen konnte, als sie in die Hocke ging, war dem Vogel das Genick gebrochen worden. »Wahrscheinlich hat irgendetwas in der Luft ihre Flügel beschädigt, und sie konnte sich nicht mehr oben halten.«
»Ich fürchte, so einfach ist die Sache nicht«, bemerkte Raphael, während Elena schon überlegte, ob sie die Taube in einem der beiden Waldstücke, die rechts und links an ihr Haus grenzten, begraben sollte.
Fragend sah sie hoch. Raphael deutete auf den Hudson, auf dem Hunderte von kleinen Flecken schwammen, während sich die Luft über dem Fluss in eine einzige, dichte, schwarze, wirbelnde Wolke verwandelt hatte. Da landete auch schon ein weiterer Vogel direkt am Klippenrand, zitterte ein letztes Mal matt mit den Flügeln, rutschte vom Felsen und sank ins Wasser.
»Dieser Sturm …«, sagte Raphael leise, während eine dritte Taube vor Elenas Füßen aufschlug, die kleinen, zerbrochenen Federn nach dem dumpfen Aufprall mattrot von Blut, »… dieses Gewitter scheint vielleicht doch nicht ganz so gewöhnlich zu sein.«
2
Elena stand hinter den großen Glasschiebetüren der Bibliothek und blickte hinaus in eine verrückt gewordene Welt. Immer noch fielen Vögel vom Himmel, die »Wolke« dort oben bestand aus Tausenden dieser kleinen Gestalten. Man musste doch irgendetwas unternehmen, dachte sie verzweifelt, man musste diesen schrecklichen Regen doch aufhalten! Aber es gab nichts, was sie tun konnte.
Der Fluss hatte sich dort, wo die Vögel kreisten, rasch geleert. Hoffentlich waren auch im inzwischen teilweise von der Wolke überschatteten Manhattan die meisten Menschen klug genug gewesen, sich in Hauseingänge und U-Bahnhöfe zu flüchten, als das unheimliche Bombardement einsetzte.
»Hast du je so etwas erlebt?«, fragte sie den Erzengel, der neben ihr stand. »Oder davon gehört?«
»Nein. Ich …« Ohne den Satz zu beenden, schob Raphael die Tür auf. »Bleib hier!«
»Aber wohin …« Die Frage blieb ihr im Halse stecken. Über dem Rasen draußen kreisten plötzlich viel größere Flügel, nicht nur Vögel stürzten in den Hudson.
Engel fielen vom Himmel.
Raphael war bereits unterwegs, tauchte hinab zum dunklen Wasser des Flusses. Der Drang, ihm zu folgen, dröhnte wie ein Trommelwirbel in Elenas Kopf, aber sie zwang sich, ihren Verstand zu gebrauchen. Die Vögel da draußen fielen mit einer Geschwindigkeit, die sich mit der von Fastballs beim Baseball vergleichen ließ, und sie hatten scharfe Schnäbel, die einen Engelsflügel ohne Weiteres zerfetzen konnten, wenn sie ihn im richtigen Winkel trafen. Sie war noch nicht kräftig genug, mehrere solcher Verletzungen zu überleben, und wenn sie sich in der Luft befand, nicht schnell und wendig genug, allen Geschossen auszuweichen. Dort draußen wäre sie für Raphael lediglich eine Belastung.
Hier drin konnte sie besser helfen. »Montgomery?« Sie rannte aus der Bibliothek.
Der Butler kam gleichzeitig mit ihr in der großen zentralen Halle des Hauses an, wie immer gepflegt und makellos in seinem korrekten schwarzen Anzug. Aber in seinen Augen stand das gleiche ungläubige Entsetzen, das Elenas Blut zu Eis werden ließ. »Gildejägerin?«
»Wir müssen eine Krankenstation einrichten«, sagte sie. »Raphael ist dort unten näher an unserem Haus als an der Stadt, er wird die gefallenen Engel wahrscheinlich hierher bringen.« Hastig sah sie sich um. Die Halle war riesig, aber Engelsflügel nahmen nun einmal viel Platz in Anspruch und noch war nicht klar, mit wie vielen Verletzten sie rechnen mussten. »Wir fangen hier in der Halle an, aber vielleicht müssen wir auch noch den Garten dazunehmen. Dort müssten wir allerdings ein Schutzdach errichten. Stabil genug, um die Vögel abzuhalten.«
»Ich werde Entsprechendes veranlassen.« Und schon verschwand der Butler mit einer verblüffenden Geschwindigkeit, die Elena wieder einmal daran erinnerte, dass Montgomery trotz seines leicht affektierten britischen Akzents und des würdevollen Gebarens gefährlicher war als jeder Vampir, den sie je gejagt hatte.
Sie hatte sich gerade auf den Weg zu den Klippen machen wollen, um beim Transport der Verwundeten zu helfen, damit sich Raphael ganz auf die Rettungsmaßnahmen konzentrieren konnte, als ihr Handy klingelte. Im Laufen warf sie einen Blick auf das Display: Die Anruferin war ihre beste Freundin Sara. Sie nahm den Anruf entgegen.
»Elena, hier
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